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Reiner Zilkenat, Die deutsche Sozialdemokratie zur wilhelminischen „Welt“- und Flottenpolitik 1897 bis 1900

http://www.fabgab.de/downloads/spdundflottenbau18971900.pdf

Dass sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein grundlegender Wandel in den ökonomischen Strukturen der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten vollzog, nicht zuletzt im deutschen Kaiserreich, der sich zeitgleich auch auf ihre Innen- und Außenpolitik auszuwirken begann, gehört zu den Erkenntnissen marxistischer historischer Forschung1, aber auch der Schule um den Hamburger Historiker Fritz Fischer2 sowie mancher der sozialgeschichtlich orientierten Geschichtswissenschaftler in der BRD der 1960er und 1970er Jahre.3 Sie alle konnten in ihren Forschungsarbeiten auf wertvolle Studien zeitgenössischer Theoretiker zurückgreifen.  

 

1 Vgl. Fritz Klein: Deutschland von 1897/98 bis 1917. Deutschland in der Periode des Imperialismus bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, 4. Aufl., Berlin-DDR 1977, S.15ff. bes.33ff.; Dieter Baudis u. Helga Nußbaum: Wirtschaft und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des ersten Weltkrieges, Berlin-DDR 1977; Helga Nußbaum: Zur Imperialismustheorie W. I. Lenins und zur Entwicklung staatsmonopolistischer Züge des deutschen Imperialismus bis 1914, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Jg. 1970, Teil IV, S.25ff.; Willibald Gutsche: Zur Erforschung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik im deutschen Imperialismus vor 1917, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (im Folgenden: ZfG), 25. Jg., 1977, S.711ff.; Autorenkollektiv unter der Leitung von Gustav Seeber: Der Kapitalismus der freien Konkurrenz und der Übergang zum Monopolkapitalismus im Kaiserreich von 1871 bis 1897, Berlin-DDR 1988 (Deutsche Geschichte, Band 5), S.394ff. Die herausragende marxistische Analyse zu dieser Thematik finden wir bei Willibald Gutsche: Monopole, Staat und Expansion vor 1914. Zum Funktionsmechanismus zwischen Industriemonopolen, Großbanken und Staatsorganen in der Außenpolitik des Deutschen Reiches 1897 bis Sommer 1914, Berlin-DDR 1986. Siehe auch derselbe: Zur Entfesselung des ersten Weltkrieges. Aktuelle Probleme der Forschung, in: ZfG, 33. Jg., 1985, H.9, S. 779ff. Eine unverzichtbare Quellensammlung ist nach wie vor: Willibald Gutsche u. Baldur Kaulisch, Hrsg.: Herrschaftsmethoden des deutschen Imperialismus 1897/98 bis 1917. Dokumente zur innen- und außenpolitischen Strategie und Taktik der herrschenden Klassen des Deutschen Reiches, Berlin-DDR  1977. 2 Zu Fritz Fischers aufsehenerregenden Studien über die Verantwortung des Deutschen Reiches an der Entfesselung des Ersten Weltkrieges sowie zu seinen Thesen über Kontinuitätslinien des deutschen Imperialismus vgl. derselbe: Der Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961 u.ö.; derselbe: Weltmacht oder Niedergang. Deutschland im ersten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1965, 2. Aufl. 1968; derselbe: Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düsseldorf 1969; derselbe: Der Erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild. Beiträge zur Bewältigung eines historischen Tabus – Aufsätze und Vorträge aus drei Jahrzehnten, Düsseldorf 1977; derselbe: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945, Düsseldorf 1979;  derselbe: Juli 1914: Wir sind nicht hineingeschlittert. Das Staatsgeheimnis um die Riezler-Tagebücher. Eine Streitschrift, Reinbek 1983; derselbe: Hitler war kein Betriebsunfall. Aufsätze, München 1992. Von den Veröffentlichungen der Schüler Fischers seien hier nur hervorgehoben: Immanuel Geiss: Der polnische Grenzstreifen 1914-1918. Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, Lübeck u. Hamburg 1960; derselbe, Hrsg.: Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentensammlung, Hannover 1963, 2 Bde.; Dirk Stegmann: Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln 1970; Peter-Christian Witt: Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches 1903-1913. Eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschland, Lübeck u. Hamburg 1970. 3 Zu den sozialgeschichtlich orientierten Historikern der BRD und ihrer Sicht auf die von ihnen zuvörderst als „Sozialimperialismus“ interpretierte „Weltpolitik“ des wilhelminischen Reiches vgl. vor allem: Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1975 u.ö. sowie die folgende Kontroverse: Geoff Eley: Die „Kehrites“ und das Kaiserreich: Bemerkungen zu einer aktuellen Kontroverse, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 4. Jg., 1978, S.91ff.; Hans-Jürgen Puhle: Zur Legende von der „Kehrschen Schule“, in: ebenda, S. 108ff.  

 

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Der damals sich vollziehenden Herausbildung des Finanzkapitals als einer Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital, der Tendenz zur wachsenden Konzentration des Kapitals und zur Monopolisierung, dem sich rapide entwickelnden Kapitalexport, den um sich greifenden Erscheinungen des außenpolitischen Abenteurertums und der innenpolitischen Repressionen galt auch die Aufmerksamkeit des bedeutenden Theoretikers der internationalen Arbeiterbewegung Rudolf Hilferding. Sein grundlegendes, 1910 publiziertes Werk „Das Finanzkapital“4, diente nicht zuletzt auch als Anregung und Grundlage der Forschungen anderer marxistischer Autoren5, von denen Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus – Gemeinverständlicher Abriss“6, veröffentlicht im Jahre 1917, bekanntlich den nachhaltigsten theoretischen und politischen Einfluss ausüben sollte. Im Vorwort der 1947 publizierten Neuauflage von Hilferdings Werk schrieb kein Geringerer als Fred Oelssner, ungeachtet mancher der von ihm formulierten kritischen Einwände: „Man kann die Ökonomie und die sozialen Bewegungen unserer Zeit nicht richtig verstehen, ohne gründlich ‚Das Finanzkapital’ studiert zu haben.“7 

 

An dieser Stelle sei aber auch vermerkt, dass sich eine Fülle von oft hellsichtigen Beobachtungen und klugen Analysen der weit reichenden wirtschaftlichen und politischen Evolutionen in der damaligen Welt des Kapitals in den Spalten des „Vorwärts“, der „Neuen Zeit“, in anderen Publikationsorganen der deutschen Sozialdemokratie, aber auch in Reden und Dokumenten der SPD-Parteitage finden lassen, die nach meiner Beobachtung in der Historiografie nicht immer die angemessene Beachtung gefunden haben.

 

In diesem Beitrag soll ausschließlich von den Anfängen der so genannten Weltpolitik und des damit zusammenhängenden Flottenbaus in den Jahren von 1897 bis 1900 die Rede sein bzw. davon, wie die Sozialdemokratie sich hierzu positionierte.8 Dieser Gegenstand war in jenen Jahren eines der bedeutendsten Themen, vielleicht sogar das bedeutsamste Thema in den politischen Auseinandersetzungen des wilhelminischen Deutschlands. 

                                                 

4 Vgl. Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus (1910). Mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Fred Oelssner, Berlin 1947 u.ö.. 5 Vgl. den zur ersten Information nützlichen Überblick von Hans-Christoph Schröder: Sozialistische Imperialismusdeutung. Studien zu ihrer Geschichte, Göttingen 1973. Siehe auch Hans-Ulrich Wehler, Hrsg.; Imperialismus, 3. Aufl., Köln 1976. 6 Wladimir I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriss, in: derselbe, Werke, Band 22, Berlin-DDR 1960, S.189ff. 7 Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital, S.XLI.  8 Hierzu ausführlich: Reiner Zilkenat: Das Flottengesetz von 1898 und seine Novellierung im Jahre 1900. Ihre Entstehungsgeschichte und die sozialdemokratische Politik und Publizistik, Magisterarbeit TU Berlin, Berlin 1979; derselbe: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ Vor 70 Jahren: Die Entfesselung des ersten Weltkrieges im Juli 1914, in: Konsequent, Heft 2/1984, S.100-107; Werner Ruch: Mehrings Kampf gegen Militarismus und Krieg (2 Teile), in: Rundbrief, hrsg. von der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE, Heft 3-4/2010, S.41ff. u. ebenda, Heft 1/2011, S.43ff.  

 

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I.  

 

Als der Admiral Alfred von Tirpitz9 im Juni 1897 von Kaiser Wilhelm II. zum Staatssekretär und Chef des Reichsmarineamtes ernannt wurde, vollzog sich nicht allein ein personeller Wechsel in diesem Amt, sondern die Personalie Tirpitz signalisierte den Beginn einer qualitativ neuen Etappe in der wilhelminischen Außen- und Militärpolitik. Worum es ging, war der gegen Großbritannien gerichtete Bau einer Schlachtflotte mit eindeutig aggressiver Zielstellung. Zugleich sollte das Budgetbewilligungsrecht des Reichstages durch die von der Regierung beantragte parlamentarische Zustimmung zur langfristigen Finanzierung der neu zu bauenden Kriegsschiffe ausgehebelt werden. Mehr noch: nach einmal festgelegten Fristen sollte die gewissermaßen automatische Modernisierung der  Flotte durch Neubauten ohne ein erneutes Votum des Reichstages ermöglicht werden (das so genannte Septennat bzw. Äternat). 

 

Deshalb titulierte Franz Mehring den Admiral Tirpitz in einem Artikel der „Neuen Zeit“ hellsichtig als einen „Marine-Roon“, dem die Aufgabe übertragen worden sei, wie der preußische Kriegsminister Albrecht von Roon in der Zeit des Heeres- und Verfassungskonfliktes der 1860er Jahre10, gegen den erklärten Willen der Mehrheit des Volkes und des Parlamentes groß dimensionierte Rüstungsmaßnahmen durchzupeitschen, koste es, was es wolle. Hiergegen müsse der Reichstag, so Mehring, „den Mut haben, der Regierung ein ‚bis hierher und nicht weiter!’ zuzurufen“. Er habe die Kraft aufzubringen, „diesen Standpunkt siegreich durchzufechten“. Das Parlament, so fuhr er fort, habe „noch einmal die vermutlich letzte Gelegenheit, sich ein Stück Macht zu erobern.“11

 

II. Worum ging es beim geplanten Aufbau einer schlagkräftigen Schlachtflotte? Nach dem Willen ihrer Befürworter sollte sie in nicht allzu ferner Zukunft in der Lage sein, im Kriegsfalle die mächtige, als unangreifbar geltende britische „home fleet“ zu neutralisieren, wenn nicht sogar in einer offenen Seeschlacht in der Nordsee zu besiegen.12 

                                                 

9 Zur Biografie des Admirals vgl. Michael Salewski: Tirpitz. Aufstieg-Scheitern-Macht, Göttingen 1979 u. Baldur Kaulisch: Alfred v. Tirpitz und die imperialistische deutsche Flottenrüstung. Eine politische Biografie, Berlin-DDR 1982, 3., durchgesehene Aufl. 1988. Eine ältere marxistische, aber methodisch wie inhaltlich unverändert anregende Studie zur Thematik wurde 1965 nachgedruckt: Eckart Kehr: Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894-1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930, Nachdruck Vaduz 1965. 10 Siehe Werner Gugel: Industrielle Herrschaft und bürgerliche Herrschaft: sozio-ökonomische Interessen und politische Ziele des liberalen Bürgertums in Preußen zur Zeit des Verfassungskonflikts 1857-1867, Köln 1975 u. Karl-Heinz Börner: Die Krise der preußischen Monarchie 1858 bis 1862, Berlin-DDR 1976. 11 Franz Mehring: Der Marine-Roon, in: Neue Zeit, 15. Jg., 1896-97, 2. Bd., Nr. 29, S.65 u. 68. 12 Vgl. hierzu vor allem: Volker R. Berghahn: Zu den Zielen des deutschen Flottenbaus unter Wilhelm II., in: Historische Zeitschrift, Band 210, 1970, S.34ff.; derselbe: Der Tirpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971. Siehe auch Baldur Kaulisch: Alfred von Tirpitz, S. 78ff.

 

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Öffentlich wurde dies strikt geleugnet. Der von April 1917 bis zum Juli 1918 amtierende Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Richard von Kühlmann, schrieb hierzu in seinen Memoiren: „In Wirklichkeit war es sein (Tirpitzens-R.Z.) Wunsch und seine Hoffnung, die englische Flotte überbauen zu können. Ich habe mit eigenen Ohren gehört – damals als Student der Rechte in Berlin weilend – , wie er in einem Privathause im vertrauten Kreise vor Reichstagsabgeordneten seine Hoffnung, der englischen Flotte den Rang abzulaufen, offen und rückhaltlos darlegte.“13   

 

Letztlich ging es um den Anspruch des deutschen Imperialismus, den Status der beherrschenden Weltmacht zu erlangen, es ging um die Neuaufteilung der Welt zu Gunsten des Deutschen Kaiserreiches, es ging perspektivisch um die Ersetzung der führenden imperialistischen Weltmacht Großbritannien durch die aufstrebende ökonomische wie militärische Großmacht Deutschland.   Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Bernhard von Bülow, hatte in seiner berühmten Reichstagsrede vom 6. Dezember 1897 die Grundmelodie dieses politischen Kurses eingängig mit folgenden, seither immer wieder zitierten  Worten formuliert: „Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“14 Allerdings lag es auf der Hand, „dass im Zeitalter der vollendeten Aufteilung der Erde…der ‚Platz an der Sonne’ so knapp geworden war, dass jeder Imperialismus, der mehr ‚Sonne’ für sich beanspruchte, diese einem anderen entzog.“15 Anders gesagt: Der deutsche Imperialismus konnte nur mit Hilfe kriegerischer Konflikte, womöglich eines Weltkrieges, darauf hoffen, Einfluss-Sphären und Kolonien zu seinen eigenen Gunsten neu verteilen zu können – ganz zu schweigen von Absichten, Territorien anderer imperialistischer Mächte Europas, wie Frankreichs oder Russlands, zu annektieren. Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelte sich dabei der Gegensatz zwischen Deutschland und Großbritannien zur Hauptquelle der Kriegsgefahr oder, wie es der Generalleutnant und Erste Generalquartiermeister der Dritten Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg, Wilhelm Groener, signifikant formulierte: „Die Geschichtsschreibung wird die Periode von 1890 bis 1918 durch die Überschrift charakterisieren: ‚Kampf  Deutschlands mit England um den Weltmarkt’.“16 

 

Maßgebliche Kreise der ökonomisch und politisch Herrschenden: der Kaiser und seine Entourage, die Spitzen der Admiralität und der Generalität sowie bedeutende Exponenten des Großkapitals, standen diesem Projekt, den „Griff nach der Weltmacht“ (Fritz Fischer) zu wagen,  ungeachtet seines höchst abenteuerlichen Charakters, nichtsdestoweniger mit großer Sympathie und Zustimmung gegenüber. Zu nennen wären hier zum Beispiel die                                                 

 

13 Richard v. Kühlmann: Erinnerungen, Heidelberg 1948, S.293. 

14 Fürst Bülows Reden. In Auswahl hrsg. von Wilhelm v. Massow, 1.Bd., Leipzig o.J., S.36. 15 Fritz Klein: Deutschland von 1897/98 bis 1917, S.58.

16 Wilhelm Groener: Der Weltkrieg und seine Probleme. Rückschau und Ausblick, Berlin 1920, S.45.

 

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von den maritimen Rüstungen profitierenden Unternehmen der Herren Krupp und von Stumm-Halberg, letzterer von den Zeitgenossen als „Scheich von Saarabien“ bezeichnet, aber auch Finanzinstitute wie die Deutsche Bank und die Disconto Gesellschaft.17

 

Zeitgleich mit der beginnenden Flottenrüstung gegen Großbritannien griff das Deutsche Reich nach allen Landstrichen und Gebieten, so klein sie auch immer sein mochten, um das eigene Kolonialreich (Deutsch-Ostafrika, Kamerun, Togo, Deutsch-Südwestafrika) auszudehnen, das im Vergleich zu denen der Engländer und Franzosen einen eher bescheidenen Charakter aufwies: Kiautschou (1898), die Marianen- und Karolineninseln, die Insel Palau, Südsamoa (jeweils 1899), ein kleiner Teil des französischen Kongo (1911). 

 

III.

 

Entschiedenste Opposition gegen diese unvermeidlich auf einen Krieg hinsteuernde „Weltpolitik“ wurde allein von der Sozialdemokratie praktiziert. Der sich herausbildende deutsche Imperialismus wurde von Beginn an durch solche Politiker und Theoretiker der SPD scharfsinnig analysiert wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht, Paul Singer und Franz Mehring. Wilhelm Liebknecht hob in einer Rede vor dem Reichstag am 27. April 1898 hervor, dass die so genannte Weltpolitik darin bestünde, „sich eigentlich in alles, was in der ganzen übrigen Welt vorgeht, einzumischen, eine Politik, die sich einbildet, die Weltvorhersehung zu spielen, und die will, dass Deutschland der Weltgendarm sein soll, der überall dafür zu sorgen hat, dass der deutsche Einfluss maßgebend ist.“18 

 

Und auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Mainz, der im September 1900 stattfand, analysierte Paul Singer: „Die Entwicklung des Kapitalismus hat dahin geführt, dass durch die Konzentration des Kapitals und durch die dem Kapital innewohnende Expansionskraft er seiner Gier nach Vermehrung nicht mehr im Inland Ausdruck geben kann. Das Streben des Kapitalismus geht dahin, alle Ausbeutungsgelegenheiten zu behaupten, welche es ihm ermöglichen, sich immer mehr zu konzentrieren.(…)Im Namen der Zivilisation geht man, in der einen Hand die Bibel, in der anderen die Flinte, nach fernen Ländern; im Namen der Zivilisation raubt man den Leuten ihr Land, und wenn sie sich dagegen

                                                

17 Zur Haltung der Großindustrie zu den Flottenrüstungen, insbesondere zur Entwicklung ihrer durch sie immens gesteigerten Profite vgl. Reiner Zilkenat: Das Flottengesetz von 1898 und seine Novellierung im Jahre 1900, S.89ff., 144ff. u. 155ff. Inzwischen äußerte sich hierzu, mit zum Teil widersprüchlicher Argumentation zu den materiellen „Wohltaten“ des Flottenbaus für die Firma Krupp sowie seltsamen Unterstellungen über das Verständnis von Politik und Ökonomie bei marxistischen Historikern: Michael Epkenhans: Großindustrie und Schlachtflottenbau 1897-1914, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Nr. 43, Heft 1/1988, S. 65ff.; derselbe: Zwischen Patriotismus und Geschäftsinteresse. F. A. Krupp und die Anfänge des deutschen Schlachtflottenbaus 1897-1902, in: Geschichte und Gesellschaft, 15. Jg., 1989, H. 2, S. 196ff.; derselbe: Die wilhelminische Flottenrüstung 1908-1914. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration, München 1991.  18 Stenografische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, IX. Legislaturperiode, V. Session 1897/98, 3. Bd., S.1985.

 

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wehren, schießt man sie wie die Hunde nieder; im Namen der Zivilisation zwingt man sie in die ökonomische Sklaverei der Eroberer…“19

 

Weite Verbreitung fanden auch mehrere Broschüren, die über die tiefer liegenden ökonomischen und politischen Motive aufklärten, die den maritimen Rüstungen zugrunde lagen. Zu nennen sind hier insbesondere Alexander Helphands (Pseudonym: Parvus) ebenso kurz gefasste wie präzise Analyse „Marineforderungen, Kolonialpolitik und Arbeiterinteressen“, die bereits 1898 publiziert wurde, Franz Mehrings Band „Weltkrach und Weltmarkt“ sowie Julian Marchlewskis (Pseudonym: Karski) Buch „Flottenkoller und Weltmachtpolitik“, die beide im Jahre 1900 erschienen.

 

IV.

 

Doch die kompromisslose Opposition der Sozialdemokratie gegen die „Welt“- und Flottenpolitik des wilhelminischen Reiches traf innerhalb der SPD mittlerweile auf unüberhörbaren Widerspruch. Im Zuge der Revisionismusdebatte20, die von Eduard Bernstein mit seiner in den Jahren 1896/97 in der „Neuen Zeit“ veröffentlichten Artikelserie, die den Titel „Probleme des Sozialismus“ trug, ausgelöst worden war, geriet die parteioffizielle Haltung in diesen Fragen unter Druck. Bernstein, der fraglos neue Erscheinungen in der sozialen Entwicklung Deutschlands erkannt und Verkrustungen in der Ideologie und Politik seiner Partei zutreffend beim Namen genannt hatte, verkannte jedoch vollständig den Charakter und die Zielsetzungen des deutschen Imperialismus um die Jahrhundertwende. In seinem 1899 publizierten Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ propagierte er offen eine Zustimmung der SPD zur Kolonial- und Außenpolitik des wilhelminischen Reiches: „Wenn wir berücksichtigen, dass Deutschland zur Zeit jährlich ganz erhebliche Mengen Kolonialprodukte einführt, so müssen wir uns auch sagen, dass einmal die Zeit kommen kann, wo es wünschenswert sein mag, mindestens einen Teil dieser Produkte aus eigenen Kolonien beziehen zu können.“21 

 

Und in seinem Aufsatz „Die türkischen Wirren und die deutsche Sozialdemokratie“ begründete er die Legitimität von kolonialer Unterdrückung und überseeischer Expansion                                                 

 

19 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Mainz vom 17. bis 21. September 1900, Berlin 1900, S.155 u.157. 20 Vgl. Peter Strutynski: Die Auseinandersetzungen zwischen Marxisten und Revisionisten in der deutschen Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende, Köln 1976. Zustimmend zu den Auffassungen Bernsteins: Helga Grebing: Der Revisionismus. Von Bernstein bis zum „Prager Frühling“, München 1977, S.16ff. Siehe auch Horst Heimann u. Thomas Meyer: Bernstein und der Demokratische Sozialismus. Bericht über den wissenschaftlichen Kongress „Die historische Leistung und aktuelle Bedeutung Eduard Bernsteins“, Bonn u. Berlin 1978. Zur zeitgenössischen „parteioffiziellen“ Kritik an Bernstein vgl. Karl Kautsky: Bernstein und das sozialdemokratische Programm (1899), Berlin u. Bonn 1979. 21 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie (1899), Reinbek bei Hamburg 1969, S.180. Siehe auch: Sozialdemokratie und Kolonien. Mit Beiträgen von Eduard Bernstein u.a., Berlin 1919 (Wiederabdruck von Beiträgen aus den „Sozialistischen Monatsheften“ aus den Jahren 1900 bis 1919 mit pro-kolonialistischer Argumentation-R.Z.).

 

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mit dem „Recht“ der „Kulturvölker“, „Wilde zu zivilisieren“: „Kulturfeindliche und kulturunfähige Völker haben keinen Anspruch auf unsere Sympathie, wo sie sich gegen die Kultur erheben. Wir erkennen kein Recht auf Raub, kein Recht der Jagd gegen den Ackerbau an.(…)Wir werden bestimmte Methoden der Unterdrückung von Wilden verurteilen und bekämpfen, aber nicht, dass man Wilde unterwirft und ihnen gegenüber das Recht der höheren Kultur geltend macht.“22 Von diesen noch allgemein formulierten Gedanken war es dann nur noch ein kleiner Schritt zu solchen Vorstellungen, denen zufolge die Sozialdemokratie im Reichstag ihre Zustimmung zu den groß angelegten maritimen Rüstungen erteilen sollte. Dahinter verbarg sich die Vorstellung, dass angeblich auch im Interesse der Arbeiterklasse eine Neuaufteilung der Welt zugunsten des deutschen Imperialismus auf der Tagesordnung stünde. In den „Sozialistischen Monatsheften“ hieß es hierzu 1899: Sollten die traditionellen Kolonialmächte und imperialistischen Großmächte wie Frankreich und Großbritannien „dazu schreiten, den Markt der von ihnen besetzten Landstriche ausschließlich für ihre eigenen Industrien zu reservieren, dann hieße es für die deutsche Exportindustrie und damit (!-R.Z.) für die deutsche Arbeiterklasse: gehe zugrunde oder erzwinge Dir den Eingang mit der Waffe in der Hand!“23

 

Ein weiteres Argument wurde in wachsendem Maße vorgetragen, um die propagierte Abkehr der Sozialdemokratie von einer entschieden antimilitaristischen Politik zu begründen: Die SPD könne mit ihrer Zustimmung zu den Flottengesetzen von der Regierung Zugeständnisse in anderen Fragen erzielen, vor allem auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der Erweiterung demokratischer Rechte. Imperialismus und Rassismus „von links“?  Sozialdemokratische Befürworter der „Welt“- und „Kolonialpolitik“ in   den „Sozialistischen Monatsheften“ 1912 bis 1918

 

 

Ludwig Quessel: Aufgaben sozialdemokratischer Kolonialpolitik (ursprünglich 1912), in: Sozialdemokratie und Kolonien. Mit Beiträgen von Eduard Bernstein u.a., Berlin 1919, S. 53f.:

 

„Wie sich die Sozialdemokratie auch zur kapitalistischen Kolonialpolitik zurzeit stellen mag, der Pflicht, zivilisatorische Kolonialarbeit zu treiben, unsere Kolonien und ihre Bevölkerung kulturell und wirtschaftlich zu heben, darf  sich keiner unserer Abgeordneten entziehen.(…) Die Kulturmenschheit kann heute die Produkte der Tropen nicht mehr entbehren, und so hoch wir auch die Freiheit und Unabhängigkeit der eingeborenen Rassen stellen mögen, so finden sie doch in der Sorge für das kulturelle Wohl der gesamten Kulturmenschheit ihre Schranken. Wären demnach die Produkte der Tropen, die die Kulturmenschheit gebieterisch begehrt, wie Ölpflanzen zur Bereitung von Kunstbutter und Seife, Baumwolle zur Kleidung, Kaffee, Tee, Kakao zur Bereitung anregender Getränke, nur durch den Plantagenbetrieb zu gewinnen, so müssten sich

                                                

22 Derselbe: Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, in: Die Neue Zeit, 15. Jg., 1896-97, 1. Bd., Nr. 4, S.110. Hervorhebungen von mir-R.Z. 23 Erich Rother: Zur Theorie der Flottenfrage, in: Sozialistische Monatshefte, 3. Jg., 1899, No.12, S.643.

 

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auch die Sozialdemokraten mit dieser Form der landwirtschaftlichen Unternehmung aussöhnen.(…)  Die Eingeborenen zu produktiver Arbeit zu erziehen ist eine erste Aufgabe dessen, was man unter sozialdemokratischer Kolonialpolitik verstehen kann. Wenn wir dahin wirken, arbeiten wir in gleicher Weise im Interesse der menschlichen Zivilisation wie unserer nationalen Wirtschaft. Wer diese Aufgabe erfasst hat, muss aber auch die zu ihrer Erfüllung geeigneten Mittel ergreifen, und hier gilt es dann die Intransigenz endgültig zu verabschieden, die jeder positiven Kolonialpolitik der Sozialdemokratie im Weg steht.“

 

August Winnig: Die Kolonien und die Arbeiter (ursprünglich 1915), in: ebenda, S. 36f.:

 

„Die primäre Ursache der Kolonialpolitik unserer Zeit ist das zwingende Bedürfnis des Wirtschaftswesens der Industrieländer nach Rohstoffen. Die Notwendigkeit der Wirtschaft des Mutterlands durch Kolonialwirtschaft zu ergänzen und zu stützen liegt vor allem für unser Land in greifbarer Deutlichkeit vor. Die dauernd starke Vermehrung der Bevölkerung hat uns ein Wirtschaftssystem aufgenötigt, dass ohne koloniale Ergänzungswirtschaft überhaupt nicht denkbar und schlechthin unmöglich ist.(…) Wir können uns heute keine Entwicklung denken, die nicht zu einer Ausweitung und Steigerung des Industrialismus führte, die uns in den Stand setzte, auf diese Rohstoffe und Produkte zu verzichten. Solange es menschliches Kulturleben geben wird, so lange wird es nur mit Hilfe der heutigen Kolonialgebiete möglich sein. Kein Mensch, keine Klasse und keine Partei kann diese Tatsache ignorieren. Vor allem kann sie keine Partei und keine Klasse unbeachtet lassen, die Anspruch auf Teilnahme an der Leitung und Verwaltung des öffentlichen Wesens erhebt.  Und am allerwenigsten kann sich die Arbeiterklasse und als ihr politischer Ausdruck die Sozialdemokratie über diese Tatsache und die aus ihr flie0enden Notwendigkeiten hinwegsetzen. Kann sich die Arbeiterklasse auf den Standpunkt stellen, dass es ihr ganz gleichgültig sei, ob die deutsche Volkswirtschaft die nötigen Rohstoffe erhalte oder nicht? Selbstverständlich wäre ein solcher Standpunkt unmöglich. Es kann einfach der Arbeiterschaft nicht gleichgültig sein, unter welchen Bedingungen sich der Ablauf der wirtschaftlichen Funktionen vollzieht. Es berührt selbstverständlich das Interesse der Arbeiterschaft, ob die Industrie, von deren Gedeihen sie selbst abhängt, die nötigen Rohstoffe erhält, und ob sie sie zu günstigen Preisen erhält.(…) Das entschiedene Bekenntnis zur Humanität auch gegenüber den Eingeborenen, darf uns nicht verkennen lassen, dass an ihnen zunächst ein gutes Stück Erziehungsarbeit zu leisten ist. Die Formel von der Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt, ist sicherlich edel und hochherzig. Aber Jahrtausende fehlender anthropologischer Entwicklung lassen sich nicht in einem Menschenalter ausgleichen. Die notwendige wirtschaftliche Erschließung primitiver Länder ist ohne Eingriffe in die ‚Rechte’ und ‚Freiheiten’ ihrer Bevölkerung ebenso wenig möglich wie die Erziehung des Kindes ohne Schulzwang und ohne Zucht.“

 

Herman Kranold: Krieg und Kolonisation (ursprünglich 1915), in: ebenda,  S. 31ff.:

 

„Schon lange war in der deutschen Sozialdemokratie ein langsames Anwachsen des Verständnisses für die nationale und kulturelle Bedeutung der Kolonisation zu beobachten. Man gewöhnte sich allmählich ab, an ihr nur die kapitalistischen Motive und Wirkungen zu sehen.(…)  Gewiss ist die negative Arbeit, die die sozialdemokratische Partei in der Kritik der kolonialen Angelegenheiten bisher geleistet hat, nicht niedrig einzuschätzen; die Partei darf es sich mit Recht zugute halten, wenn auch in bürgerlichen kolonialfreundlichen Kreisen Deutschlands sich allmählich ein besseres und werktätigeres Verständnis für die Aufgaben des Eingeborenenschutzes geltend gemacht hat. Ihr unablässiges Bohren hat bewirkt, dass das Wort, der Eingeborene sei das wertvollste Inventarstück unserer Kolonien, nun in einem anderen als dem rein unternehmerfreundlichen Sinn gebraucht wird. (…) Trotz vieler Vorbehalte und Bedenken müssen Presse und Fraktion um wichtiger Fortschritte willen sich entschließen können, manchmal weniger angenehme Dinge mit in  

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den Kauf zu nehmen. Sie dürfen sich nicht dadurch kopfscheu machen lassen, dass man ihnen sagt, sie besorgten die Geschäfte des Kapitalismus. Das mag sein, Aber, wie wir gelernt haben, dass es in vielen Dingen eine Interessenidentität der Bauern und der Industriearbeiter gibt, so müssen wir auch verstehen lernen, dass in manchen Dingen, zum Beispiel eben in kolonialen, eine Interessensolidarität des Bourgeois und des Proletariers besteht.(…)  Der bedeutendste Aktivposten in der Bilanz des Kolonisationswerkes in Afrika und Ost- und Südasien ist die christliche Mission. Sie ist für den besten Teil der gegenwärtigen Kolonisatoren, die Engländer, immer der Pfadfinder gewesen; ihr haben ihre Methoden den Erfolg zu verdanken: ihr, der Methode der Humanisierung der schwarzen und gelben Menschen.“   

 

Wilhelm Jansson: Arbeiterklasse und Kolonialpolitik (ursprünglich 1916), in: ebenda, S. 28f.:

 

„Die Kolonisation ist durchaus nicht nur kapitalistische Profitmacherei, sondern sie ist trotz allen widerwärtigen Begleiterscheinungen eine Kulturarbeit, die volkswirtschaftlich notwendig ist. (…) Die Neger an geregelte Tätigkeit zu gewöhnen, ist schließlich auch eine Kulturarbeit, und Aufgabe der Sozialdemokratie ist es, an dieser Frage aktiven Anteil zu nehmen. Es muss sich in unseren Reihen die Erkenntnis durchsetzen, dass koloniale Arbeit nicht nur kapitalistische Gewinnsucht, sondern auch allgemeinen volkswirtschaftlichen Bedürfnissen dient. Nur dann werden wir positiv mitwirken und auch einen entsprechenden Einfluss auf die Gestaltung der Kolonialpolitik ausüben können.“

 

Max Schippel: Eingeborenenpolitik und koloniale Selbstregierung (ursprünglich 1918), in: ebenda, S. 11f.:

 

„Keine koloniale Selbstregierung hat bisher daran gedacht und kann jemals daran denken den Eingeborenen, der gestern noch Menschenfresser oder Kopf- und Skalpjäger im Bann des Schädelkultus war, heute und morgen sofort mit allen politischen Rechten des Kulturträgers oder doch Kulturteilnehmers auszurüsten, ihn zu allen Entscheidungen über die Fort- und Durchbildung der bisher erreichten höchsten Wirtschaftsordnung mit heranzuziehen; etwa gar, beim zahlenmäßigen Übergewicht des eingeborenen Bevölkerungselementes, bis zur maßgebenden Entscheidung der höchsten Kulturfragen durch die vollkommene Kulturrückständigkeit und Kulturfeindschaft.“ 

 

 

 Dieser politische Tauschhandel, „Kompensationspolitik“ genannt, traf auf den energischen Widerspruch der linken Kräfte innerhalb der Sozialdemokratie. Franz Mehring formulierte unmissverständlich in der „Neuen Zeit“: „Es ist vollständig in der Ordnung, wenn die sozialdemokratische Partei die Rechte, die das Proletariat heute schon besitzt, aufs Äußerste verteidigt und sie mit aller Kraft zu vermehren trachtet; aber es wäre das denkbar schlechteste Mittel der Verteidigung, von der prinzipiell schroffen und stolzen Haltung, der die Partei alle ihre Erfolge verdankt, auch nur um Haaresbreite abzuweichen, ihren sozialrevolutionären Charakter auch nur einen Augenblick zu verleugnen. Käme der wunderliche Standpunkt, Volksrechte gegen Kanonen einzutauschen, jemals in der Partei zur Geltung, es wäre der weitaus schlimmste Fehler, den ihre Geschichte zu verzeichnen hätte, der weitaus schwerste Nackenschlag, den die Partei sich jemals selbst zugefügt hätte.“24                                                  

 

24 Franz Mehring: Immer die Alten, in: Neue Zeit, 16. Jg., 1897-98, 2. Bd., Nr. 49, S.707f.

 

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V.

 

Bei den Abstimmungen im Deutschen Reichstag am 28. März 1898 und am 12. Juni 1900 gab es ein ablehnendes Votum aller sozialdemokratischen Abgeordneten zu den Flottenvorlagen. Noch hatten diejenigen Politiker der SPD, die auf die  „Kompensationspolitik“ ausgerichtet waren, keinen entscheidenden Einfluss gewinnen können, zumal der Mainzer Parteitag im Jahre 1900 noch einmal die prinzipiell negative Haltung zur imperialistischen Außen- und Militärpolitik bestätigt hatte.  Auch muss hervorgehoben werden, dass zahlreiche Veranstaltungen von der Partei gegen die „Welt“- und Flottenpolitik organisiert wurden, ja, dass Versammlungen von Flottenbefürwortern, zu denen nicht zuletzt prominente, als eher liberal geltende Professoren zählten, von sozialdemokratischen Parteimitgliedern aufgesucht und – wie man es später in Zeiten der Studentenbewegung zu nennen pflegte – „umfunktioniert“ wurden.25 Dies war um so bedeutsamer und notwendiger, weil der im April 1898 gegründete „Deutsche Flottenverein“ eine Unzahl von öffentlichen Vorträgen sowie Flottenbesuche organisierte, systematisch in den Schulen agitierte, immer neue Flugblätter und Broschüren in Massenauflagen vertrieb und in trauter Zusammenarbeit mit dem „Nachrichtenbureau“ im Reichsmarineamt  widerstrebende Reichstagsabgeordnete vor den entscheidenden Abstimmungen „bearbeitete“ sowie den Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften mit großem Erfolg enthusiastisch formulierte Artikel und Kommentare zu den Marinerüstungen anbot.26 Dass die Mitgliedschaft im Flottenverein nicht selten durch Vorgesetzte von Arbeitern, Angestellten und Beamten erpresst wurde, sei hier nur am Rande erwähnt. Hierzu finden sich in den Spalten des „Vorwärts“ zahlreiche konkrete Beispiele.

 

Die SPD organisierte demgegenüber besonders im Vorfeld der Abstimmungen im Reichstag öffentliche Kundgebungen gegen die Flottengesetze. Hervorgehoben sei an dieser Stelle eine Großkundgebung in Berlin am 1. Februar 1898. Als Referentin war Clara Zetkin eingeladen worden, die zum Thema „Flottenvorlage, Kolonialabenteuer und die Interessen der Frauen des Volkes“ sprach. Anwesend war ein entschiedener Flottenbefürworter und Propagandist deutscher „Weltpolitik“, der Vorsitzende des „Nationalsozialen Vereins“, Friedrich Naumann. 

 

Clara Zetkin lehnte in ihrer Rede die Marinerüstungen aus grundsätzlichen Erwägungen ab, forderte die Einleitung sozialer Reformen für die Arbeiterklasse und den Abbau                                                 

 

25 Vgl. Reiner Zilkenat: Das Flottengesetz von 1898 und seine Novellierung im Jahre 1900, S.123ff. u. 194ff. 26 Vgl. Reiner Zilkenat: Kriegsideologie und Friedensdemagogie – Das Beispiel der Flottengesetze im wilhelminischen Deutschland 1898 bis 1900, Vortrag für das Faschismus-Colloquium der Friedrich-SchillerUniversität Jena, 1. Oktober 1984, Ms.. Zu den am meisten verbreiteten, einschlägigen Broschüren zählten z.B.: Adolph v. Wenckstern: Heimatpolitik durch Weltpolitik. Reden zur Flottenvorlage 1900, Leipzig 1900; W. Ph. Englert: Das Flottenproblem im Lichte der Socialpolitik, Paderborn 1900.

 

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steuerlicher Belastungen. Anstatt Etatmittel für den Kriegsschiffbau zu verschwenden, sollten sie für die Belange der Frauen genutzt werden: Ihnen solle endlich Versicherungsschutz gewährt, ihren Kindern müsse Bildung und Schulspeisung aus öffentlichen Mitteln gewährt werden. Zur so genannten Weltpolitik erklärte sie: „Mit der überseeischen Weltmachtpolitik ist eine Schwächung und Hemmung der demokratischen Entwicklung des deutschen Volkes verbunden. Mögen Professoren, Pastoren, Doktoren und andere Toren sich gefallen in der Uniform freiwilliger See-Husaren: Die deutsche Arbeiterklasse und insbesondere die proletarischen Frauen werden diese Narrenjacke niemals anziehen. (Nicht endenwollender Beifall).“27 Clara Zetkins Opponent Friedrich Naumann fand sich mit seinem, den revisionistischen Kräften innerhalb der Sozialdemokratie entlehnten Vorschlag, die SPD solle mit der Regierung eine Kompensationspolitik vereinbaren und sich nicht länger mit dem bloßen Opponieren und Protestieren begnügen, als Rufer in der Wüste wieder.28 

 

Analysiert man die Berichterstattung des „Vorwärts“ sowie andere Quellen über die Durchführung von Veranstaltungen der Sozialdemokratie zur Flottenpolitik, so entsteht der Eindruck, dass ihre Zahl im Jahre 1900, als das 2. Flottengesetz zur Verabschiedung im Reichstag anstand, im Vergleich zur Veranstaltungswelle des Jahres 1898 stark rückläufig gewesen ist. Ungeachtet dessen waren vor allem in Berlin wiederum einige Kundgebungen organisiert worden, einschließlich des ungebetenen Besuchs in Veranstaltungen des Deutschen Flottenvereins. 

 

Am 7. Februar 1900 gelang es der Partei, insgesamt neunzehn Großveranstaltungen des Flottenvereins, auf denen prominente Befürworter der maritimen Rüstungen auftraten, wie zum Beispiel die führenden Wirtschaftswissenschaftler Gustav Schmoller und Werner Sombart, „umzufunktionieren“ und eine Resolution zu verabschieden, in der die Flottengesetze grundsätzlich abgelehnt wurden.

 

Dennoch waren Defizite im außerparlamentarischen Kampf gegen die Flottengesetze nicht zu leugnen. Franz Mehring war es, der in einem Beitrag in der „Neuen Zeit“ mit seiner Kritik an der insgesamt unzureichenden Versammlungstätigkeit seiner Partei gegen das Flottengesetz von 1900 nicht hinter dem Berg hielt. Er schrieb hierzu kritisch,                                                 

 

27 Vorwärts, Nr. 28, 3.2.1898, Beilage, S.3. 28 Friedrich Naumann hatte in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Die Hilfe“ am 14. Mai 1899 in dankenswert offener Weise seine Aufforderung formuliert, alles zu tun, um die revisionistischen Kräfte innerhalb der Sozialdemokratie zu unterstützen und letztlich die Partei in eine unspezifische, antikonservative Sammlungsbewegung einzugliedern. Dafür sei es erforderlich, dass die SPD „einen großen Teil unnützen Utopismus und Radikalismus“ abstreife. Es müssten von ihr „bestimmte nationalpolitische Aufgaben übernommen werden, aus einer reinen Protestpartei muss sich eine schaffende, staatserhaltende sozialistische Partei gestalten – nationaler Sozialismus auf freiheitlicher Grundlage.“ Zitiert nach: Willibald Gutsche u. Baldur Kaulisch, Hrsgg.: Herrschaftsmethoden des deutschen Imperialismus 1897/98 bis 1917, S.65.

  

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dabei den Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik berücksichtigend: Es „hätten energische und unablässige Massenkundgebungen einen fühlbaren Druck auf den Reichstag ausüben können, und obgleich es – dank den Arbeitern – an solchen Kundgebungen keineswegs ganz gefehlt hat, so spürte man an ihnen doch selten etwas von jener unfassbaren, aber keineswegs unwirksamen Stimmung, die den Massenkundgebungen etwa gegen die Umsturz- oder Zuchthausvorlage ihre eigentümliche Wucht zu geben pflegt.(…)Vielleicht sind nie über eine verlorene Sache so viele Schweißtropfen vergossen worden, wie um den Versuch, ein Bruchteilchen des Proletariats auf den Flottenleim zu locken: die gänzliche Erfolglosigkeit aller dieser Anstrengungen ist ein schönes Ehrenzeugnis für die politische Reife der deutschen Arbeiterklasse. Sie hat sich keinen Augenblick über ihre Lebensinteressen täuschen lassen, die zugleich die Lebensinteressen der Nation sind. Was allein fraglich sein könnte, ist nicht sowohl eine Verkennung als eine Unterschätzung der Gefahr: wäre den Arbeitern immer gegenwärtig gewesen, wie eng die Flottenvorlage mit der ganzen reaktionären Wirtschaftspolitik der beiden letzten Jahrzehnte zusammenhängt, so würden sie ihr dieselbe lebhafte und unermüdliche Opposition gemacht haben, wie den Lebensmittelzöllen oder dem Sozialistengesetz.“29 

 

VI.

 

Mehr als Flottengesetze von 1898 und 1900 leben wir in einer veränderten Welt. Gerade für die politische Linke stellen sich neuartige Herausforderungen und Aufgaben. Vieles von dem, was als „gesicherte Erkenntnis“ oder als „irreversible Entwicklung“ galt, musste über Bord geworfen werden. Mehr als einhundert Jahre nach der verhängnisvollen Verabschiedung der Flottengesetze von 1898 und 1900 leben wir in einer veränderten Welt. Gerade für die politische Linke stellen sich neuartige Herausforderungen und Aufgaben. Manches von dem, was als „gesicherte Erkenntnis“ oder als „irreversible Entwicklung“ galt, musste über Bord geworfen werden.

 

Und dennoch: Mir scheint, dass darüber nachgedacht werden sollte, an einem der seit mehr als hundert Jahren geltenden Prinzipien der Arbeiterbewegung unbedingt festzuhalten: Wenn es um die Zustimmung zu Rüstungen und Kriegseinsätzen geht, mit welchen kunstvoll gestrickten Argumentationen sie auch immer legitimiert sein mögen, sollte man sich an die Maxime von August Bebel und seiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter erinnern: 

„Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“   

 

 

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