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[Leipziger Volkszeitung, Nr. 168-173 vom 23-26, 28 und 29. Juli 1913.

Nach Gesammelte Schriften, Band 3, 1973, S. 267-290]

I

Leipzig, 23. Juli

 

Das neueste Militärgesetz spielt in jeder Hinsicht, sowohl durch seinen Umfang wie durch alle Begleitmomente, eine so epochemachende Rolle in der inneren Entwicklung Deutschlands, dass das Verhalten unsrer Partei diesem Gesetz gegenüber noch für eine geraume Zeit zum Gegenstand einer eingehenden Prüfung werden dürfte. Namentlich kann über das Verhalten unsrer Fraktion im ganzen, nachdem die verschiedenen Ansichten und Argumente aus ihrer Mitte allmählich alle an die Öffentlichkeit gelangt sind, nunmehr ein abschließendes Urteil gefasst werden.

 

Dieses Verhalten ist, was von vornherein bemerkt werden muss und was seine Beurteilung bedeutend erschwert, durchaus kein einheitliches gewesen. Vielmehr lassen sich im Verlaufe der drei Monate und der verschiedenen Stadien, in denen das Militärgesetz Gegenstand der Verhandlungen war, in der Haltung der Fraktion mehrere Schwankungen bemerken.

 

Dass schon die erste Lesung im April, bei aller Wahrung des prinzipiellen Standpunkts der Milizforderung durch unsre Redner, im ganzen die Partei nicht auf der erforderlichen Höhe zeigte, darf allerdings nicht auf das Schuldkonto der Fraktion in erster Linie oder wenigstens nicht allein auf ihr Konto gesetzt werden. Dass wir im ganzen gegen die ungeheuerliche Vorlage gleich bei ihrem Auftauchen nicht das erforderliche Höchstmaß an Protest in allen unter den Umständen möglichen Formen wachzurufen verstanden haben, wird heute von der Mehrheit der Partei ebenso zweifellos wie schmerzlich empfunden. Gibt man darauf die Erklärung, dass die breiten Massen diesmal durch die angesagte Deckung aus den Mitteln der Besitzenden für unsre Agitation etwas stumpf und gleichgültig gemacht worden sind, so ist damit für uns nicht eine Entschuldigung, sondern nur eine neue Anklage formuliert. Denn alsdann hatten wir erst recht die Pflicht, unser ganzes Verhalten darauf einzurichten, um bei den Massen die gefährliche Illusion zu zerstören, als würden die Kosten des Militarismus nunmehr auf die Schultern der Herrschenden abgewälzt. Alsdann war es Gebot der Selbsterhaltung für uns, sofort mit allem Nachdruck das Interesse der Öffentlichkeit von der Deckungsfrage ab- und der Wehrvorlage zuzuwenden, die finanzielle Seite der Vorlage hinter der politischen verschwinden zu lassen. Nur so konnte das Spiel der Regierung und der bürgerlichen Mehrheit durchkreuzt werden, nicht in dem Sinne, dass wir die Annahme der Militärvorlage hätten verhindern können, wohl aber in dem schwerwiegenderen Sinne, dass wir moralisch, politisch den Sieg des Militarismus sofort in einen Pyrrhussieg verwandelt, ihn zur Revolutionierung der Geister vollauf ausgenutzt hätten. Ist dem aber so, dann verwandelte sich der Hinweis auf die Gleichgültigkeit der Massen infolge der eigenartigen Deckungsart der Militärvorlage in die schärfste Anklage gegen die Fraktion, denn sie hat im weiteren Verlauf der Verhandlungen und namentlich durch ihre Schlussabstimmung so ziemlich alles getan, um die gefährliche Illusion der Massen zu befestigen und dauernd zu erhalten.

 

Es unterliegt jetzt keinem Zweifel und wird durch Äußerungen aus der Mitte der Fraktion bestätigt, dass ein großer Teil, wohl die Mehrheit unsrer Abgeordneten, gleich nach der ersten Lesung das Schwergewicht ihrer Aktion in die Deckungsfrage verlegen, die Wehrvorlage aber als eine im Voraus entschiedene Sache, an der nicht viel mehr zu machen sei, hinnehmen zu müssen glaubte. Damit verband sich bei jenem Teil der Fraktion auch ein bestimmter politischer Plan, der dahin ging, die Verhandlung der Deckungsvorlage von der der Wehrvorlage zu trennen, um im Bunde mit den Liberalen eine Mehrheit gegen den Schwarz-Blauen Block zu bilden und diesem eine Erbschaftssteuer und eine Reichsvermögenssteuer aufzuzwingen.

 

Dass die Trennung der beiden Vorlagen trotzdem keinen Nachteil von unserm Standpunkt aus zur Folge hatte, uns vielmehr ermöglicht hat, die Wehrvorlage im Plenum vor die breite Öffentlichkeit zu ziehen und agitatorisch auszunützen, ändert nichts an der Verfehltheit der obigen Taktik in ihren Grundlinien und in ihrer Begründung. Die zweite Lesung der Wehrvorlage ist von unsrer Fraktion — das steht außer Zweifel — in glänzender Weise für die Zwecke der Agitation ausgenützt worden. Durch die zum Teil vortrefflich formulierten und ebenso verteidigten Reformanträge in der zweiten Lesung hat uns die Fraktion Agitationsmaterial in Hülle und Fülle geliefert, und es bleibt nur zu wünschen, dass dieses wertvolle Material für die Massenaufklärung auch vollauf verwertet wird. Die zweite Lesung der Wehrvorlage bildete auch den Glanzpunkt und den Höhepunkt des ganzen drei Monate langen Kampfes. Berücksichtigt muss freilich werden, dass uns dabei Umstände zu Hilfe gekommen waren, die weder im Machtbereich der Fraktion noch in ihrer Berechnung lagen. Die zehn Tage der zweiten Lesung sind uns einzig und allein deshalb zugute gekommen, weil inzwischen der neue Deckungskompromiss zwischen den Liberalen und dem Zentrum perfekt werden musste. Man ließ uns im Plenum reden, weil und genau so lange, wie die Kuhhändler Zeit brauchten, um hinter unserm Rücken mit ihrem Geschäft fertig zu werden. Hätten unsre Vertreter in der Budgetkommission gegen die Trennung der Wehrvorlage von der Deckungsvorlage gestimmt, dann wäre der Kuhhandel der bürgerlichen Parteien nicht während der Plenarverhandlungen, sondern während einer parlamentarischen Pause abgeschlossen worden. Ob aber dieser Kuhhandel hinter den Kulissen einen Tag oder zehn Tage beanspruchen würde, das konnte kein Mensch im voraus wissen. Am allerwenigsten konnte die Fraktion im voraus auf eine solche Gnadenfrist mit Bestimmtheit rechnen, da sie vielmehr in ihrer Mehrheit umgekehrt darauf rechnete, selbst mit den Liberalen gegen das Zentrum wie gegen die Konservativen die Deckungsfrage zu erledigen. Was uns also bei der zweiten Lesung der Wehrvorlage als Frist für die Agitation im Plenum zugute gekommen ist, war nicht etwa die Frucht der geschickten Taktik der Fraktion, sondern in gewisser Hinsicht ein mehr oder weniger zufälliges Ergebnis des Umstandes, dass sich der taktische Plan der Fraktionsmehrheit zerschlagen hatte. Dies mindert nicht das Verdienst der Fraktion, die jene zufälligen Umstände zum Nutzen der Partei und für ihr Ansehen mit Kraft und Geschick gewendet hat. Es ist aber zur objektiven Einschätzung ihrer Taktik im ganzen durchaus nötig, sich darüber klarzuwerden, dass es nicht diese Taktik war, der wir die ausgiebigen Verhandlungen der zweiten Lesung verdanken. Es kam dies auch alsbald drastisch zum Ausdruck. Die Fraktion nahm es, wie man in den Parteiblättern sagen konnte und wie man jetzt hört, als selbstverständlich an, dass sie nunmehr ebenso für die Hinausschiebung der dritten Lesung mit den Blauschwarzen stimmen würde, wie sie für die Beschleunigung der zweiten Lesung gegen diese Parteien gestimmt hatte. Leider sollte diese Entschließung nicht mehr praktische Bedeutung erlangen: Sobald das Zentrum mit den Liberalen hinter den Kulissen einig war, brauchte man uns nicht; die zweite Lesung wurde geschlossen, und das weitere spielte sich im Schnellzugstempo ab, ohne dass unsre Fraktion einen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der Geschäftsordnung mehr erlangen konnte.

 

Kurzum, wenn nach der bekannten Abstimmung in der Budgetkommission über die Trennung der beiden Vorlagen in unsrer Parteipresse und in Versammlungen Vorwürfe gegen unsre Fraktion laut wurden, als hätte sie die Beschleunigung der ganzen Verhandlungen verschuldet, so war dieser Vorwurf unseres Erachtens unberechtigt. Unsre Fraktion hatte in Wirklichkeit, wie das jetzt klar für jedermann zutage liegt, gar keinen Einfluss auf die Frist, in der die Militärvorlage im ganzen erledigt würde: Es waren bürgerliche Parteien, deren Kuhhandel schließlich über den Gang und den Ausgang der Dinge entschied. Dass sich unsre Fraktion eine Zeitlang einbildete, einen solchen entscheidenden Einfluss ausüben zu können, hängt mit jenen Illusionen in bezug auf den „linken Block" zusammen, auf den wenigstens ein großer Teil unsrer Fraktion baute. Diese Illusionen lagen aber schon zertrümmert am Boden in dem Moment selbst, als die zweite Lesung der Wehrvorlage begann und als unsre Fraktion den Triumph über die „platonischen" Geschäftsordnungsproteste der Konservativen und des Zentrums so voreilig genoss.

II

Leipzig, 24. Juli

Auf die zweite Lesung der Wehrvorlage folgte die zweite Lesung der Deckungsvorlage, und damit kam in die Haltung unsrer Fraktion eine merkliche Schwankung nach rechts, die unsre Position wieder verwirrte und schwächte. Was jetzt zur Verhandlung vor das Plenum gelangte, passte so auf die beabsichtigte und erhoffte Gestaltung der Deckung, wie sie unsre Fraktion mit den Liberalen gegen die Schwarzblauen zustande zu bringen gedachte, wie die Faust aufs Auge. Die Absichten und Hoffnungen der Fraktionsmehrheit in dieser Hinsicht finden wir klipp und klar formuliert im Leitartikel des „Vorwärts" vom 29. Mai, wo es heißt: „Für uns handelt es sich viel weniger um das Wann als um das Wie der neuen Steuern. Wenn je, so ist jetzt die Gelegenheit zu einer gründlichen Finanzreform gegeben. [Hervorhebung — R. L.] Das Reich muss endlich zu einer wirklichen Besitzbesteuerung gelangen. In erster Linie steht nach wie vor die Erbschaftssteuer. Wenn es in England möglich ist, aus der Erbschaftssteuer jährlich 500 Millionen Mark aufzubringen, dann ist es in Deutschland erst recht möglich, 150 bis 200 Millionen Mark aus dieser Steuer zu gewinnen. Als zweite Besitzsteuer ist eine Vermögenssteuer unbedingt erforderlich [Hervorhebung — R. L.]… Nur dadurch bekommt der Reichstag wieder sein Recht der Einnahmebewilligung, nur dadurch kann sein Budgetrecht zu einem wirksamen Mittel wieder ausgestaltet werden."1

 

Mit dem Hinblick auf eine so aufgefasste „gründliche Finanzreform" war auch die Entscheidung unsrer Fraktion für die getrennte Behandlung der beiden Vorlagen begründet und erklärt:

 

Die Einführung der Erbschafts- und Vermögenssteuer", hieß es weiter im „Vorwärts", „würde zugleich die Grundlage schaffen für die Durchführung einer wirklichen Finanzreform [Hervorhebung — R. L.], die die unsinnigsten und drückendsten indirekten Steuern beseitigen könnte. Gründliche Arbeit ist also notwendig, die um so eher geleistet werden kann, je freier der Reichstag in seinen Entschließungen ist. Die Loslösung der Deckungs- von den Heeresvorlagen ist also in diesem Falle durchaus rationell."2

 

Die schleierhafte Wendung von der gründlichen Arbeit, die um so eher geleistet werde, „je freier der Reichstag in seinen Entschließungen" sei, bedeutet auf gut deutsch: Die Liberalen sollten durch die Sicherstellung der Wehrvorlage von dem Drucke der Rechtsparteien befreit werden, erst dann konnten sie mit der Sozialdemokratie in der Deckungsfrage „gründliche Arbeit" leisten.

 

Was ist aus diesem Plan geworden? Die Rechnungen auf die Liberalen erwiesen sich wieder einmal als hoffnungslose Luftschlösser, als unverzeihliche Verblendung. Die Liberalen drehten uns eine Nase, liefen, nachdem die sozialdemokratische Fraktion ihnen zuliebe die getrennte Verhandlung der beiden Vorlagen mit beschlossen hatte, zu dem Zentrum über und brauten mit diesem ein Deckungskompromiss zusammen. An Stelle der großen Erbanfallsteuer und der Reichsvermögenssteuer ist eine Spottgeburt getreten, die eine boshafte Karikatur auf jene beiden Steuern zusammen darstellt. An Stelle der „wirklichen Finanzreform" ein Gelegenheitspfuschwerk, das selbst nach dem Bekenntnis aus freisinnigem Lager „den Weg zu einer wahrhaften Finanzreform verrammelte" — siehe die Äußerung Gotheins im „Berliner Tageblatt" vom 7. Juli. An Stelle einer „gründlichen Arbeit" der linken Mehrheit im Sinne der fortschrittlichen Umgestaltung der Finanzverhältnisse des Reichs zur Schonung der arbeitenden Masse ist hinter dem Rücken der Sozialdemokratie eine Flickarbeit der Liberalen mit der klerikalen Hälfte der reaktionären Mehrheit zur möglichsten Schonung der agrarischen Hälfte dieser Mehrheit zustande gekommen.

 

Die politische Konstellation wie das praktische Resultat hatten sich also vom Standpunkte der Erwartungen unsrer Fraktion während der zweiten Lesung der Wehrvorlage in ihr direktes Gegenteil verkehrt. Es ist klar, dass die Fraktion, wenn sie sich freie Hand und freie Entschließung gewahrt hätte, demgemäß ihre Front ändern und nunmehr mit aller Kraft gegen das Deckungskompromiss und seine Väter zum Angriff übergehen musste. Das allein hätte bei der zweiten Lesung der Deckungsvorlage im Plenum die glänzende Position gewahrt, die wir bei der zweiten Lesung der Wehrvorlage eingenommen hatten.

 

Es kam leider anders. Unsre Fraktionsredner Südekum und David zogen merkwürdigerweise die gänzliche Zertrümmerung ihrer ursprünglichen Pläne gar nicht in Rechnung, sondern behandelten das liberal-klerikale Steuerkompromiss nach wie vor als einen Triumph der Sozialdemokratie! Statt die Nichtswürdigkeit dieser Flickarbeit gegen eine wirkliche Finanzreform unbarmherzig zu zerpflücken, bemühten sie sich umgekehrt, die epochemachende Bedeutung des Wehrbeitrags herauszustreichen und für die Zukunft den deutschen Finanzhimmel voller Geigen zu malen. Anstatt den elenden Verrat der Liberalen und ihren schmachvollen Umfall vor dem Lande, vor den Wählern rücksichtslos zu enthüllen und zu brandmarken, redeten sie den reaktionären Kuhhändlern mit Gewalt ein, dass sie unsre Fraktion nicht ausgeschaltet hätten, dass ihr Pfuschwerk „ein erster großer Erfolg" der Sozialdemokratie, „eine Abkehr von der früheren Finanzpolitik Deutschlands", eine erste Verwirklichung des sozialdemokratischen Programms darstelle.

 

Mit einem Wort: Anstatt die Volksmassen zu warnen, zu ernüchtern, ihre Kritik gegenüber diesen „Besitzsteuern" und „Opfern" wachzurufen, sie für die Zukunft misstrauisch zu machen, haben unsre Redner alles getan, um die Illusionen dieser Massen zu stärken, als erlebten wir den Anfang einer Weltwende, eine neue Ära, in der die Lasten des Militarismus immer mehr auf die Schultern der Besitzenden fallen würden. Der Gesamteindruck der zweiten Lesung der Deckungsvorlage war denn auch in der Tat in hohem Maße verwirrend und deprimierend.

 

Die dritte Lesung der Wehrvorlage brachte unsre Position wieder für einen Augenblick in die Höhe. Der Elan und die geistige Überlegenheit im Auftreten unsrer Redner, die Wucht, mit der das Erfurter Schreckensurteil3 dem Reichstag aufs Haupt geschleudert wurde, verschafften unsrer Fraktion momentan wieder die ihr gebührende Offensive und damit volle Sicherheit und Klarheit des Standpunkts. Doch der nächste Moment — die Schlussabstimmung über die Deckungsvorlage — sollte leider die Gesamtaktion unsrer Abgeordneten mit einer Handlung krönen, die den Schwerpunkt der Taktik endgültig nach rechts verlegte: Es folgte die Annahme sowohl des Wehrbeitrags wie der Reichsvermögenszuwachssteuer durch unsre Fraktion.

 

Der Vorgang ist ganz neu in unsrer Parteigeschichte. Es ist formell ein Bruch mit unserm bisherigen Prinzip: Diesem System keinen Mann und keinen Groschen. Es müssten demnach ganz klare und unzweifelhafte, äußerst wichtige und zwingende Gründe dafür sprechen, wenn sich die parlamentarische Vertretung der deutschen Sozialdemokratie entschließt, für die Hergabe von öffentlichen Mitteln zu Rüstungszwecken ihre Stimmen abzugeben. Welche Gründe kann die Fraktion in diesem Fall zur Rechtfertigung ihrer Handlungsweise anführen?

 

Ein äußerer Umstand beweist schon auf den ersten Blick, dass in diesem Fall keine klare, keine unzweifelhafte und keine unbedingt zwingende Notwendigkeit einer solchen Abstimmung vorlag: Innerhalb unsrer Fraktion selbst war ein ganzes Drittel zum mindesten fest überzeugt, dass die Ablehnung des Wehrbeitrags geboten war. Ein zweiter Umstand, der dies bestätigt, war die offizielle Erklärung selbst, die vom Genossen Haase als Kommentar zu unsrer Abstimmung im Reichstag verlesen worden ist. Dieses in der Praxis unsrer Reichstagsfraktion ungewohnte Verfahren hatte den deutlichen Zweck, den prinzipiellen Standpunkt der Partei zu wahren, unterstrich jedoch damit nur um so mehr, dass die Abstimmung selbst kommentarbedürftig, vom prinzipiellen Standpunkt nicht einwandfrei, nicht unzweideutig war. Unsre Reichstagsabgeordneten griffen hier zu demselben Auskunftsmittel, das von den süddeutschen Genossen angewendet worden ist, als sie das Bedürfnis empfanden, ihre Abstimmung für das Budget mit dem grundsätzlichen Standpunkt der Sozialdemokratie in Einklang zu bringen. Damals wurde den badischen Genossen von der Gesamtpartei mit Entschiedenheit entgegengehalten, dass durch Worte, durch Erklärungen der politische Charakter einer Handlung wie der Budgetabstimmung nicht geändert werden könne, dass durch ein formales Bekenntnis zum Prinzip des Klassenkampfes der Widerspruch zwischen diesem Prinzip und der Zustimmung zu dem Budget des Klassenstaates nicht aufgehoben werde. Was für die süddeutschen Parlamentarier richtig, dürfte auch auf die Reichstagsfraktion zutreffen: War ihre Abstimmung durch unzweifelhafte, zwingende Gründe mit dem prinzipiellen Standpunkt der Partei zu vereinbaren, dann war die feierliche Erklärung überflüssig oder zum mindesten gleichgültig. Lässt sich aber die Abstimmung nicht aus dem Zwang der Lage und aus parteipolitischem Interesse rechtfertigen, dann hilft die Erklärung nicht im geringsten, den Verstoß gegen die Grundsätze gutzumachen. So oder so kommt es auf den Charakter der Vorlage, für die unsre Fraktion gestimmt hat, und auf die gesamte politische Situation an, es kommt auf den Wert der Handlung an, nicht auf die dabei zu Protokoll gegebenen Erklärungen.

III

Leipzig, 25. Juli

Die Vertreter der Fraktionsmehrheit rechtfertigen ihr Verhalten bei der Abstimmung über die Deckungsvorlage mit der Notwendigkeit, die Kosten der militärischen Rüstungen, wenn man sie nicht verhindern kann, auf die herrschenden Klassen abzuwälzen, und mit unsrer Programmforderung der direkten Steuern. Vor allem: Wenn die Fraktionsmehrheit aus unserm Programm die Berechtigung, ja die Verpflichtung ableiten will, für jede wie immer geartete direkte Steuer unter allen Umständen stimmen zu müssen, so ist das eine ganz willkürliche Verkehrung des Sinns und Wortlauts unseres Parteiprogramms. Der entsprechende Passus im Erfurter Programm lautet:

 

Stufenweis steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind. Selbsteinschätzungspflicht. Erbschaftssteuer, stufenweise steigend nach Umfang des Erbguts und nach dem Grade der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und sonstigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern.“

 

Das ist unsre Programmforderung. Was hier formuliert ist, ist entsprechend dem Sinne und Geiste des Programms und aller seiner Teile eine großzügige, umfassende, durchgreifende Reform des Finanzsystems in seinem Wesen, seinen Grundlagen und seinem ganzen Geiste. Hier ist gar keine Rede von direkten Steuern an sich, losgelöst vom ganzen Finanzsystem, als wären sie ein sozialdemokratisches Ideal. Die direkten Steuern erscheinen hier unter doppeltem Gesichtspunkt: erstens in der Gestalt einer gründlichen, allgemeinen, progressiven Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer, die als solche zur mächtigen und reich fließenden Quelle der öffentlichen Mittel wird, zweitens als einzige steuerliche Grundlage des Staatshaushalts. Abschaffung aller indirekten Steuern und Zölle: Dieser letzte Satz des Programmpassus ist die natürliche Ergänzung seines ersten Satzes. Die direkten Steuern sind hier nicht an und für sich, sondern an Stelle der indirekten gedacht.

 

Es ist also klar, dass unsre finanzpolitische Forderung eine so gründliche Reform des gesamten Charakters der heutigen Finanzwirtschaft des Deutschen Reiches im Auge hat und auf diese Finanzwirtschaft genauso passt wie unsre Forderung der Miliz auf das heutige Militärsystem oder unsre Forderung der Republik auf das Hohenzollernsche Gottesgnadentum. Das beweist aber nicht, dass unsre finanzpolitischen Forderungen utopisch und ungeeignet sind, unsrer täglichen Praxis im Parlament zur Richtschnur zu dienen; das beweist nur, dass es eben Forderungen des sozialdemokratischen und nicht des freisinnigen Programms sind. Die Verwirklichung dieses Steuerprogramms wird gerade infolge seines durchgreifenden radikalen Charakters — genauso wie die Verwirklichung der Milizforderung, mit der es auch in innigster Verknüpfung steht, aussichtslos unter den heutigen Machtverhältnissen — erst dann zur Tat werden können, wenn das klassenbewusste Proletariat die entscheidende politische Macht im Staate in die Hand genommen hat.

 

Die Programmforderungen sollen uns aber als Wegweiser und Richtschnur in unserm Tageskampfe dienen. Wir müssen heute schon alles bekämpfen, was ihre Verwirklichung erschwert und verzögert, und alles unterstützen, was sie beschleunigt und anbahnt.

 

Ist nun die Deckungsvorlage, die in dem Hexenkessel des klerikal-nationalliberalen Kompromisses zusammengebraut worden ist, als eine solche Anbahnung anzusehen? Sind der Wehrbeitrag und die Reichsvermögenszuwachssteuer, die bloß eine Karikatur jeder rationellen Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer sind und auf Jahre hinaus den Weg zu jeder rationellen Finanzreform in dieser Richtung versperren, ein wenn auch noch so bescheidener Anfang der Ersetzung der indirekten Steuern durch direkte, der Befreiung der arbeitenden Massen von der Finanzlast des Militarismus? Die Mehrheit unsrer Fraktion, deren Wortführer in diesem Falle Südekum und David waren, bringt es fertig, dies zu bejahen, und zwar mit dem Hinweis auf die folgende einfache Tatsache: Hätte die sozialdemokratische Fraktion am 30. Juni nicht zur Annahme der beiden Steuern mitgeholfen, dann würden wir im Herbst todsicher eine viel ungünstigere Konstellation im Reichstag und damit anstatt der Besitzsteuer neue indirekte Steuern bekommen. Der „Vorwärts" schrieb am 1. Juli über die Abstimmung unsrer Fraktion: „Sie hat sich zur Zustimmung (zu den neuen Steuern — R. L.) entschlossen und dadurch verhindert, dass wiederum, wie bisher, die Lasten der neuen Rüstungen auf die Schultern der breiten Massen abgewälzt worden sind."4

 

Hier verfallen die Verteidiger der Fraktionsmehrheit in einen merkwürdigen Widerspruch mit ihren eigenen Worten und Erklärungen. Auf der einen Seite hören wir, dass die neuen Besitzsteuern unter dem Druck der 4½ Millionen sozialdemokratischer Wähler zustande gekommen sind, dass wir in diesen Steuern „Anzeichen für den Lauf, den die militaristische Entwicklung nehmen wird", zu sehen haben: „Die Kräfte, die für die Volkswehr und die progressiv steigenden direkten Steuern wirken, werden von Tag zu Tag stärker. Ob sie wollen oder nicht — die bürgerlichen Parteien mitsamt ihrem regierenden Ausschuss werden gezwungen, die Richtung auf dieses Ziel einzuschlagen."5 [Hervorhebung — R. L.] So schrieb der „Vorwärts" am 28. Juni, zwei Tage vor der definitiven Abstimmung. Und im Reichstag zerschmetterten gleichzeitig Südekum wie David die bürgerlichen Parteien mit düsteren Prophezeiungen, dass nunmehr keine Rettung für sie übrig sei, dass der eherne Zwang der Entwicklung den einmaligen Wehrbeitrag und das Pfuschwerk der Deckungssteuer von Jahr zu Jahr würde unerbittlich wiederkehren und wachsen lassen.

 

Als es aber zur Abstimmung kam, da verwandelten sich der Druck der 4½ Millionen Wähler, „die Kräfte", die für die steigenden direkten Steuern von Tag zu Tag stärker wirken, und der eherne Zwang der Verhältnisse offenbar in blauen Dunst. Denn schon bis zum Herbst sollte ihre Wirkung versagen, und die neuen Besitzsteuern sollten als ein pures Zufallsprodukt einer momentanen parlamentarischen Konstellation betrachtet werden, als ein Glücksfall der Lotterie, der schnell am Schopfe gefasst werden müsste, damit er ja nicht wieder auf lange Zeit entschlüpfe.

 

Eins von beiden. Waren die neuen Deckungsmittel der Militärvorlage wirklich nur der erste Anfang einer ganzen im Gang der Dinge liegenden Entwicklung, die uns dahin bringen soll, die Lasten des Militarismus immer mehr auf die besitzenden Klassen abzuwälzen, wie uns das Zentralorgan und die Fraktionsmehrheit versichern, dann ist es lächerlich, davon zu sprechen, dass im Falle der Ablehnung der Deckungsvorlage durch die sozialdemokratische Fraktion am 30. Juni die schöne Gelegenheit nicht mehr wiederkehren würde, dass wir im Herbst unweigerlich anstatt der direkten Steuern zur Strafe neue indirekte Lasten bekommen würden und dass deshalb eine Notwendigkeit vorlag, für das Zustandekommen der neuen Besitzsteuern ein Opfer des sozialdemokratischen Prinzips zu bringen, für die ungeheuerlichste aller Militärvorlagen mit sozialdemokratischen Stimmen Mittel zu bewilligen.

 

Oder aber hing die Annahme der Besitzsteuern diesmal wirklich nur an einem Haar und würde im Falle der Ablehnung im Herbst keine ernsten Aussichten mehr haben, im Reichstag eine Mehrheit zu finden, dann ist die ganze glorreiche finanzpolitische Perspektive des unvermeidlichen Hineinwachsens Deutschlands in das System der direkten Besteuerung, die uns vor gemalt wird, nichts als ein Humbug.

 

Der klaffende Widerspruch, der hier zwischen den Worten der Fraktionsmehrheit und ihrer Abstimmung liegt, ist nur eine Probe der allgemeinen Unklarheit ihrer Taktik in diesem Falle.

 

Doch die Hauptsache: Durch den Hinweis auf die eventuell im Falle der Ablehnung der Deckungsvorlage drohenden neuen indirekten Steuern soll das klerikal-nationalliberale Steuerkompromiss im Geiste unseres Programms als ein Ersatz für indirekte Steuern, als eine wenigstens teilweise Abwälzung der Lasten von den Besitzlosen auf Besitzende erscheinen.

 

Nun, wir sind in der glücklichen Lage, die Probe aufs Exempel gleich machen zu können. Wir haben es gar nicht nötig, erst durch hypothetische Kombinationen über das, was uns eventuell im Herbst an neuen Steuern beschert werden würde, die Frage zu prüfen. Unsre Fraktion konnte sich sehr leicht überzeugen, ob die neuen Besitzsteuern als ein Ersatz für indirekte Volksbelastung im Sinne unseres Programms aufzufassen waren : Das wurde ihr wenige Stunden vor der Schlussabstimmung an den Schicksalen der Zuckersteuer faustdick gezeigt. Hier war der Fall gegeben, hier war der Rhodus, wo gesprungen werden musste. Wäre auch nur diese einzige von den zahllosen bestehenden Lasten auf dem Verbrauch der Massen abgeschafft oder auch nur ermäßigt worden, so konnte die Behauptung der Fraktion, dass sie durch die neuen Besitzsteuern die Bürde der arbeitenden Masse erleichtert habe, wenigstens eine gewisse Berechtigung beanspruchen. Doch gerade hier war alle Mühe und aller Kampf unsrer Fraktion vergeblich. Hier stand sie fast ganz allein gegen die geschlossene Mauer der bürgerlichen Parteien. An den Schicksalen der Zuckersteuer hatte es sich also, wie kaum drastischer möglich, geoffenbart, dass durch die „Opfer" der Besitzenden für den Militarismus auch nicht eine einzige von den bestehenden indirekten Steuern beseitigt werden sollte. Es zeigte sich, dass die neuen Militärlasten nicht eine Entlastung des Volkes und anstatt dessen eine Belastung der Herrschenden bedeuten, sondern dass sie die hartnäckigste Beibehaltung des ganzen bestehenden Systems der indirekten Steuern bloß durch eine minimale Heranziehung der unteren Schichten der Besitzenden ergänzen wollen. Dies kam an der Hand einer der volksfeindlichsten und verhasstesten indirekten Steuern wie der Zuckersteuer so populär, so lapidar zum Ausdruck, dass man staunen muss, wie ruhig sich unsre Parlamentarier über diese Belehrung haben hinwegsetzen können. Es ist also feststehende Tatsache: Die bestehenden Lasten des Volkes sind durch die neuen direkten Steuern auch nicht um ein Jota vermindert worden. Mit dem Sinn unsrer Programmforderung hat das angenommene Steuerkompromiss also nichts zu tun, denn unser Programm spricht ausdrücklich von einem Ersatz bestehender indirekter Steuern durch direkte. Es bleibt von den Erklärungen der Fraktionsmehrheit demnach nur eine Deutung, die eine neue, freie Auslegung des Parteiprogramms darstellt: Wir hätten einfach jede direkte Steuer an und für sich schon als einen „Ersatz" für indirekte Steuern und somit unter allen Umständen als eine „Verhütung" neuer Volksbelastung zu betrachten, denn kommt die direkte Steuer nicht zustande, dann droht unweigerlich an ihrer Stelle jederzeit eine neue volksfeindliche Verbrauchssteuer.


Dieser finanzpolitischen Weisheit verlohnt es sich in jeder Hinsicht, genaue Aufmerksamkeit zu schenken.

 

IV

Die Auffassung unsrer Fraktionsmehrheit, die darauf hinausläuft, dass man eigentlich jede direkte Steuer als eine „Verhütung" indirekter Steuern zu betrachten habe, beruht auf der Annahme, dass die Einführung indirekter Steuern an sich überhaupt jederzeit und in jedem Umfang möglich ist, wenn sich nur der gute Wille der Parlamentsmehrheit dazu bereit findet. Demnach würde an Stelle jeder abgelehnten direkten Steuer unweigerlich eine oder mehrere indirekte, volksbelastende treten.

 

Diese Auffassung ist finanzpolitisch und ökonomisch total verfehlt. Die Einführung von steuerlichen Belastungen des Massenverbrauchs als nackte parlamentarische Machtfragen betrachten hieße für jeden ernsteren Politiker, auch aus dem bürgerlichen Lager, sich ein Armutszeugnis ausstellen. Der unfähigste preußische Finanzminister wird nicht eine solche steuerpolitische Maxime zu vertreten wagen, und wagte er es, so würde er verdienen, wegen Mangel an elementarer ökonomischer Vorbildung vom Amte weggejagt zu werden. Auch hier haben es die herrschenden Klassen denn doch nicht gar so bequem mit dem Herrschen, sie sind vielmehr in ihrer Ausplünderungspolitik im Staate wie auch in dem industriellen Privatbetriebe an gewisse objektive Schranken gebunden: an die jeweilige wirtschaftliche Konjunktur und an die Leistungsfähigkeit des Ausbeutungsobjekts, der arbeitenden Massen. Es ist schon eine elementare Erkenntnis der Finanzpolitik, dass jedes neue Steuerbündel, das dem Verkehr und den Konsumenten aufgebürdet wird, eine gewisse Zeit erfordert, in der sich die Gewohnheiten, Beziehungen und das Lebensniveau der Masse an die neuen Anforderungen anpassen. Soweit die Rücksichtslosigkeit und der Appetit der bürgerlichen Mehrheit und der Regierung gehen mögen, sie müssen auch im Einführen von indirekten Steuern und Zöllen gewisse Pausen und ein gewisses Maß beobachten, denn wird dieses überspannt, so versiegt einfach die Quelle, und die Einnahmen gehen zurück, statt zu wachsen. Wenn wir jetzt in Deutschland den einmaligen Wehrbeitrag und die Reichsvermögenszuwachssteuer gekriegt haben, so vor allem deshalb, weil sowohl die Reichsregierung wie die ausschlaggebenden Parteien — das Zentrum und die Liberalen — die feste Überzeugung hatten, dass eine weitere indirekte Belastung der Massen vorerst einfach undenkbar war. Nach dem großen Raubzug der letzten Zolltarifrevision und der letzten „Finanzreform" musste eine gewisse Pause eintreten. Das sagten auch Freisinnige im „Berliner Tageblatt":

 

Die indirekten Steuern und Zölle erneut heranzuziehen erweist sich deshalb als undurchführbar, weil die Belastung des Volkes damit bereits das zulässige Maß überschritten hat… Darüber bestand bei der erdrückenden Mehrheit des Reichstages keine Meinungsverschiedenheit, dass neue Lasten im wesentlichen nur auf den Besitz gelegt werden konnten."

 

Dazu kam noch die Angst vor den Wählern, unser Sieg im letzten Jahre, der Druck der 4½ Millionen sozialdemokratischer Stimmen. Dass sich aber angesichts der Unmöglichkeit, diesmal neue Lasten dem Volke aufzubürden, die herrschenden Klassen entschlossen haben, in den eigenen Beutel zu greifen, darin kam ein andrer Druck, ein andrer übermächtiger Faktor zum Vorschein: der Riesenschritt des deutschen Imperialismus. In der ersten militärischen Deckungsvorlage aus Besitzsteuern liegt in der Tat ein höchst bedeutsames Symptom, in gewisser Hinsicht ein Wendepunkt und ein Markstein in der politischen Entwicklung Deutschlands, nur in ganz anderm Sinne, als unsre Fraktionsmehrheit es herausgelesen hat. Es zeigte sich hier, dass das Wachstum des deutschen Militarismus nunmehr in ein so rasendes Tempo verfallen ist, dass selbst die unermüdliche indirekte Steuerschraube des Deutschen Reichs mit ihm nicht gleichen Schritt zu halten vermag. Es zeigte sich, dass die Anforderungen der imperialistischen Entwicklung nicht mehr auf die unvermeidlichen ökonomischen und steuertechnischen Pausen und Schranken der indirekten Besteuerung zugeschnitten werden können und dass wir in Deutschland bereits in die Periode eingetreten sind, wo neben der äußersten Anspannung der Verbrauchssteuern, die auf der breiten Volksmasse lasten, eine teilweise Inanspruchnahme der Schichten der Bourgeoisie notwendig geworden ist. Dass in diesem Zusammenhang das Novum der teilweisen Ausdehnung des direkten Steuersystems von den Einzelstaaten auf das Reich, den Hort des deutschen Militarismus, stattgefunden hat, ist gerade der handgreifliche Ausdruck für die Tatsache, dass der finanzpolitische Umschwung, der Beginn der „neuen Ära" unter den Auspizien des Militarismus, unter seinem Druck und in seinem Sinne stattgefunden hat. Bisher kam das Reich, d. h. der Militarismus, mit Zöllen und Verbrauchssteuern aus, nunmehr kann er nicht mit diesen Mitteln allein auskommen. Und waren die direkten Steuern bisher den Einzelstaaten, d. h. der übrigen Domäne des kapitalistischen Staates außerhalb des Militarismus vorbehalten, so wird nunmehr auch diese Quelle der öffentlichen Mittel in den Machtbereich des Militarismus gezogen, von ihm teilweise aufgesogen werden.

 

Was folgt daraus? Es folgt erstens, dass die herrschenden Klassen nunmehr auch selbst gewisse Kosten für die Erhaltung ihres „geschäftsführenden Ausschusses", des militaristischen Klassenstaats, beitragen müssen —Kosten, die jedoch durch den Bedarf des Militarismus zum größten Teil wieder in die Taschen der schweren Industrie und der Finanz wandern, dadurch aber durch tausend Kanäle den Blutkreislauf der ganzen kapitalistischen Wirtschaft beleben, den Puls der Ausbeutung anspannen, die Profitmacherei stärken und ausdehnen. Es folgt zweitens, dass die unter solchen Umständen, in solchem ökonomischem und politischem Zusammenhang eingeführten direkten Steuern nicht ein Mittel sind, bestehende indirekte Steuern zu ersetzen oder auch nur neue zu „verhüten", sondern dass sie, indem sie dem Wachstum des Molochs Militarismus neue Nahrung zuführen, die sicherste Gewähr für neue indirekte Steuern in nicht ferner Zukunft in ihrem Schoße tragen. Lassen sich auch die Belastungen der Volksmasse nicht schrankenlos und nicht in jedem Augenblick, wie es nunmehr das Kommando des Militarismus erheischt, durchsetzen, so bildet dafür jede Besitzsteuer einen neuen kräftigen Stachel, um bei der nächsten Möglichkeit, bei der nächsten besseren Konjunktur Kompensationen in Gestalt von neuen indirekten Steuern zu fordern. Die Finanzgeschichte der modernen großkapitalistischen Staaten bietet Beispiele genug dafür, und schon an ihrer Schwelle leuchtet ein Beispiel klassischer Art. Während des Bürgerkrieges der amerikanischen Union ist ein „patriotischer Wehrbeitrag" in Gestalt von unerhörten Kriegssteuern eingeführt worden, die jedes Vermögen, jedes Einkommen, jedes Gewerbe rücksichtslos anpackten. Hätten unsre Südekum und David damals im Washingtoner Kongress gesessen, sie würden diesen rücksichtslosen Angriff auf die Taschen der Besitzenden wahrscheinlich nicht mehr für den Anfang einer neuen finanzpolitischen Weltwende im Sinne des sozialdemokratischen Programms, sondern schon direkt für den leibhaftigen sozialistischen Staat erklärt haben und natürlich, „da der Krieg nun einmal trotz unseres Protestes Tatsache war" und es sich nur noch darum handelte, „seine Kosten den Besitzenden aufzubürden", für diese blutigen Besitzsteuern samt und sonders gestimmt haben. Die Folge der Kriegssteuern war aber, dass gleich nach der Beendigung des Krieges eine „Vergütung" der „schwer belasteten Industrie" durch Zölle begann, die in eine beispiellose schutzzöllnerische Orgie ausartete. Und — das ist der besondere Witz der Geschichte — dieser Schrei nach der „Kompensation" für die Besitzsteuern diente fortgesetzt zum Ausbau jenes ungeheuerlichen Schutzzollsystems der Vereinigten Staaten, das in seinen Grundlagen bis zu der ersten Reform in diesem Jahre, also sechzig Jahre lang, angehalten hat, nachdem jene einstigen Besitzsteuern, die ihm zum Vorwand gedient hatten, längst wieder aufgehoben worden waren.

 

Zeigt so das amerikanische Beispiel, wie schon die Opfer der Besitzenden auf dem Altar des Militarismus die indirekte Volksbelastung „verhüten", so haben wir nach einem Gegenstück dazu nicht weit zu suchen: Es ist in der eigenen Finanzgeschichte des Deutschen Reichs enthalten, und zwar in der Finanzreform des Jahres 1909. Dort war die Erbschaftssteuer schon von vornherein mit einem Pack neuer indirekter Steuern verbunden. Die Besitzsteuer kam hier gleich mit ihrer natürlichen Ergänzung, mit Verbrauchssteuern, auf die Welt, und zwar in typischem, symptomatischem Verhältnis. 90 bis 100 Millionen an direkter Steuer, gepaart mit 400 Millionen neuer indirekter Lasten, das war das „normale" Verhältnis, in dem Besitzsteuern im heutigen kapitalistischen Staate zu den Verbrauchssteuern stehen. Nicht als Ersatz für bestehende Lasten des Volkes, nicht als Verhütung neuer Lasten, sondern umgekehrt als Deckung, als Flagge, unter der neue indirekte Steuern, und zwar im dreifachen, vierfachen Verhältnis, einher ziehen — so trat die Erbschaftssteuer in der Finanzreform des Jahres 1909 auf. Ob dabei die Paarung zwischen neuen direkten und neuen indirekten Steuern gleich in einer gemeinsamen Vorlage klipp und klar zutage tritt, wie 1909, oder erst nach Verlauf von einigen Jahren durch getrennte Gesetze bewerkstelligt wird, dürfte für etwas weiter blickende Politiker keinen wesentlichen Unterschied ausmachen. Nur im Zusammenhang mit jener lehrreichen Episode der deutschen Finanzgeschichte kann deshalb die letzte Deckungsvorlage richtig eingeschätzt werden, und man muss staunen über die Blindheit gegenüber diesen Lehren des gestrigen Tages, wenn unsre Fraktionsmehrheit es fertigbringt, sich und der Welt allen Ernstes einzureden, der Wechselbalg der Besitzsteuern, den das Zentrum und die Nationalliberalen zur neuen Stärkung des deutschen Militarismus zusammengebraut haben, „verhüte" dauernd eine Neubelastung des deutschen Volkes mit indirekten Steuern.

 

Schon die Frist von wenigen Jahren dürfte genügen, um jene leichtsinnige Erklärung der Fraktion in alle Winde zu zerstreuen und neue Verbrauchssteuern, die die Masse schwer treffen, auf dem Tische des Hauses erscheinen zu lassen!

 

So sieht das Hauptargument der Fraktionserklärung in der nüchternen Wirklichkeit aus. Doch sehen wir uns nach andern Momenten um.

V

Das zweite Hauptargument der Fraktionsmehrheit, das ihre Zustimmung zu den direkten Steuern für die Militärausgaben rechtfertigen soll, ist die Hoffnung, „dass die damit eingeleitete schärfere Heranziehung der Besitzenden zu den Rüstungskosten dazu beitragen wird, die Sympathie dieser Kreise für eine Fortsetzung der Rüstungstreibereien abzukühlen [Hervorhebung — R. L.] und uns dadurch den Kampf gegen den Militarismus zu erleichtern".6

 

Diese Taktik, die der Bourgeoisie den Militarismus „verekeln" zu können glaubt, indem sie ihr die Geldausgaben für den Militarismus zu einem Teil aufbürdet, ist auf den sogenannten gesunden Menschenverstand berechnet oder genauer auf eine rein kleinbürgerliche, platte und mechanische Auffassung, die in dem modernen Militarismus lediglich ein „Geschäft", lediglich eine Geldfrage erblickt, hingegen von der wirtschaftlichen und politischen Funktion des Militarismus in der kapitalistischen Gesellschaft, von seiner fundamentalen Rolle für den Bestand der Klassenherrschaft, von den Tendenzen der heutigen imperialistischen Geschichtsphase gänzlich absieht.

 

Auch hier brauchte unsre Fraktion nur nach der historischen Erfahrung, nach einem naheliegenden Beispiel zu greifen: Sie brauchte nur nach Großbritannien zu blicken. Dort haben wir das kapitalistische Musterland der direkten Steuern. Dort ist der Besitz längst und in hohem Masse zu den Kosten des Militarismus herangezogen. Nach der Denkschrift des Reichsschatzamts zur Begründung der Deckungsvorlage betragen die Einnahmen aus direkten Steuern (nach den Voranschlägen 1911) im Deutschen Reich 2 Milliarden Mark, in Großbritannien 2,6 Milliarden Mark. Auf den Kopf der Bevölkerung entfallen an direkten Steuern im Deutschen Reich nur 30,89 Mark, in Großbritannien aber 59,27 Mark, d. h. das Doppelte, außerdem aber an Erbschaftssteuer im Deutschen Reich auf den Kopf 95 Pf, in Großbritannien 11,66 Mark. Gerade in den letzten Jahrzehnten ist die Heranziehung der Besitzenden in England zu den Kosten des Staatshaushalts immer energischer betrieben worden. Die direkten Steuern betrugen hier (nach einer andern Berechnung) auf den Kopf im Jahre 1875 7,64 Mark, hingegen im Jahre 1908 26,55 Mark, d. h., sie sind gewachsen um 250 Prozent! Musste sich da nicht „die Sympathie dieser Kreise für eine Fortsetzung der Rüstungstreibereien abkühlen", musste da nicht der britische Militarismus nach und nach zusammenschrumpfen und wie ein welkes Blatt abfallen? Nun, Tatsachen und Zahlen zeigen merkwürdigerweise das umgekehrte Bild. In derselben Zeitspanne von 1875 bis 1908 sind die Ausgaben Englands für Heer und Marine von 16,10 Mark pro Kopf der Bevölkerung auf 26,42 Mark gestiegen. Ja, das Wachstum des Militarismus ging hier wie in den übrigen kapitalistischen Großstaaten in immer rascherem Tempo. Nur in den letzten 25 Jahren, 1883 bis 1908, sind die Ausgaben Englands für Heer und Flotte um 112 Prozent gestiegen. Wir brauchen auch nur einen Blick auf die Kolonialgeschichte Englands zu werfen, um den Zusammenhang dieses Wachstums zu verstehen. Gerade in die Periode des starken Wachstums der direkten Besteuerung seit 1875 fallen ja die gewalttätigsten Vorstöße des britischen Imperialismus: zu Beginn der achtziger Jahre das Verschlucken Ägyptens, das ganze achte Jahrzehnt hindurch das Vorrücken Schlag auf Schlag in Zentral- und Südafrika, in den neunziger Jahren der Burenkrieg. Also gerade in den letzten Jahrzehnten reckt sich und streckt sich der britische Imperialismus zu seiner ganzen Größe aus, und die englische Bourgeoisie, die so schwere direkte Steuern bezahlen muss, kühlt in dieser Zeit ihre Begeisterung für den Militarismus nicht ab, sondern kommt merkwürdigerweise in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr in die Begeisterung hinein. Der Geist Cecil Rhodes', der Niedergang des englischen Liberalismus, Chamberlain und der Jingoismus sind alles Erscheinungen jüngsten Datums, und eine ungeheure Flottenvorlage jagt dort die andre — um die Wette mit unsern Militär- und Flottenvorlagen.

 

Ist nun den Arbeitern, den Sozialdemokraten in England der Kampf gegen den Militarismus durch die britische Steuerpolitik „erleichtert" worden? Dieser Kampf ist umgekehrt in England viel schwächer, viel ohnmächtiger als in Deutschland. Ja, gerade in England hat sich sogar ein Teil der Arbeiterschaft und der Sozialisten von der imperialistischen Flottenbegeisterung der Bourgeoisie mit ins Schlepptau nehmen lassen. Das beweist natürlich für einen denkenden Politiker nicht, dass wir die indirekten Steuern und die Abwälzung der Militärlasten auf das arbeitende Volk der direkten Besteuerung vorzuziehen hätten. Ein solcher Schluss wäre genauso roh und plump wie die umgekehrte Spekulation: die direkten Steuern seien das einfachste Mittel, dem Militarismus hinterrücks, mit den Händen der Bourgeoisie, nach und nach das Lebenslicht auszublasen, ihn sozusagen am Geiz der Kapitalisten krepieren zu lassen.

 

An dem Beispiel der britischen Geschichte für die letzten 40 Jahre zeigt sich vielmehr, dass der Militarismus im heutigen kapitalistischen Klassenstaat offenbar tiefere Wurzeln hat, als dass er sich durch eine boshafte Steuerpolitik abwürgen ließe. Es zeigt sich, dass, trotzdem finanztechnisch die herrschenden Klassen in England die Kosten „ihres" Militarismus tragen — die Rechnung für das Jahr 1908 lautet: direkte Steuern 26,55 Mark pro Kopf, Ausgaben für Heer und Marine 26,42 Mark pro Kopf —, der englische Kapitalismus daran weder zugrunde gegangen noch auf den Bettelstab gekommen ist. Umgekehrt, er macht glänzende Geschäfte, was zu beweisen scheint, dass auch dann, wenn die Kosten des Militarismus äußerlich, finanztechnisch, auf der Bourgeoisie lasten, sie dabei sowohl ökonomisch ihre Auslagen wieder in ihre Taschen mit Zinseszinsen zurückzubringen versteht wie mit Hilfe des Militarismus ihre Profitmacherei, ihre Klassenherrschaft, ihre Ausbeutung glänzend zu betreiben und fördern vermag.

 

Es folgt endlich aus alledem, dass zur Erleichterung des Kampfes der Arbeiterklasse gegen den Militarismus nicht die finanzpolitischen Illusionen und eitlen Hoffnungen auf eine „Dämpfung" des Militarismus durch direkte Steuern dienen können. Es folgt umgekehrt gerade aus dem Beispiel der englischen Arbeiter, dass für den Kampf des Proletariats gegen den Militarismus nichts so gefährlich und hinderlich ist wie die Einbildung, als komme es bei dem Militarismus in erster Linie darauf an, wie viel er koste, und — dies die Hauptsache — als trage die Bourgeoisie, wenn sie direkte Steuern zahlte, auch wirklich die Kosten der militärischen Entwicklung. Es folgt, dass „zur Erleichterung unseres Kampfes gegen den Militarismus" nichts so wichtig ist wie die gründliche Aufklärung der Volksmassen über die wirklichen ökonomischen und politischen Wurzeln des heutigen Militarismus als eines Pfeilers der Ausbeutung und der Klassenherrschaft unter allen Umständen und bei allen finanzpolitischen Deckungsmethoden, über die Tatsache, dass es in letzter Linie auch unter direkten Steuern die Arbeiterklasse ist, die in jeder Hinsicht, wirtschaftlich wie politisch, die Zeche zu zahlen hat, und dass man deshalb diesem System keinen Mann und keinen Groschen bewilligen dürfe.

 

Allen diesen Standpunkten hat die Fraktionsmehrheit sowohl durch die von unsern Rednern bei der zweiten Lesung der Deckungsvorlage gehaltenen Reden wie durch die Motivierung ihrer Schlussabstimmung direkt zuwidergehandelt.

 

Es bleibt nur noch, die politische Situation zusammenzufassen, aus der heraus die Taktik der Fraktion erst ihre Gesamtwürdigung erhalten kann.

 

VI

Leipzig, 29. Juli

Die ganze politische Perspektive, nach der die Fraktionsmehrheit ihre Taktik orientiert hat, war also unseres Erachtens verkehrt. Die Militärvorlage durfte nicht als das Anzeichen einer Entwicklung Deutschlands in der Richtung auf die Volkswehr gedeutet werden, wie der „Vorwärts" am 28. Juni schrieb, die Deckungsvorlage durfte nicht als ein erster Anfang der Verwirklichung des sozialdemokratischen Programms gedeutet werden, wie die Genossen Südekum und David im Plenum verkündeten, das klerikal-liberale Kompromiss durfte nicht als eine Verhütung neuer Volksbelastung gedeutet werden, wie die Erklärung der Fraktion besagt. Im Gegenteil, es war Pflicht der Fraktion, dem Volke über die epochemachende Bedeutung und ihre weiteren Perspektiven der ungeheuerlichen Militärvorlage die Augen zu öffnen, ihm durch das Auftreten im Reichstag klarzumachen:

 

dass der Übergang des Reichs zur teilweisen Deckung der Heeresausgaben durch direkte Steuern der handgreiflichste Beweis ist, dass bei dem rasenden Tempo im Wachstum des Militarismus nunmehr die Mittel der Verbrauchssteuern und Zölle für die Deckung allein nicht mehr auszureichen vermögen;

 

dass es unverzeihliche Kurzsichtigkeit und Verblendung wäre, aus dieser teilweisen Heranziehung der Besitzenden zu den Kosten des Militarismus zu schließen, die Schröpfung des Volkes würde nunmehr aufhören oder auch nur nachlassen; umgekehrt, jede neue Stärkung des Militarismus führt unvermeidlich zu weiteren Forderungen des gefräßigen Ungetüms, die neue Militärvorlage verschärft enorm die internationalen Gegensätze, steigert das allgemeine Rüstungsfieber, macht also in nächster Zukunft todsicher neue Schröpfungen unvermeidlich;

 

dass selbst dann, wenn sämtliche Kosten des Militarismus von der Bourgeoisie gedeckt wären, sie es ausgezeichnet versteht, die Kosten in Wirklichkeit auf die arbeitenden Massen abzuwälzen, also jeder dem Militarismus in welcher Gestalt immer bewilligte Pfennig ein Beitrag zur Stärkung der politischen und ökonomischen Klassenherrschaft, zur Stärkung des Todfeindes der Arbeiterklasse ist;

 

dass obendrein die Deckungsvorlage auch in den bescheidensten Grenzen nicht als eine ernstgemeinte Reform der reichsdeutschen Finanzen im fortschrittlichen und volksfreundlichen Sinne betrachtet werden kann, sondern als ein miserables Pfuschwerk, das den Weg zu einer rationellen Finanzreform versperrt;

 

dass endlich die schroffe Ablehnung auch der geringsten Militärreformen im fortschrittlichen Sinne sowie die Ablehnung der Anträge auf Herabsetzung der Zuckersteuer den volksfeindlichen Charakter des ganzen Machwerks nur noch mehr unterstrichen hat;

 

dass die Sozialdemokratie aus allen diesen Gründen jede Verantwortung für dieses Werk der Reaktion von sich weist und sie vollauf dem Zentrum und den Liberalen zuweist, welch letztere namentlich durch ihren Verrat die Hauptschuld an der Verhunzung der Deckungsvorlage tragen.

 

Und eine solche Taktik, die selbstverständlich zur Ablehnung des Wehrbeitrags wie der Reichsvermögenszuwachssteuer hätte führen müssen, sollten die Volksmassen „absolut nicht verstehen können"? Nun, die Massen der organisierten Genossen haben bereits an mehreren Orten im Lande gezeigt, dass sie eine solche Taktik sehr wohl verstanden hätten und dass sie umgekehrt das Verhalten der Fraktion nicht verstehen können. Das Parteigewissen empfand schon während der Verhandlungen in der Budgetkommission und im Reichstag, dass in diesem Falle, auf diesen ungeheuerlichen Vorstoß der imperialistischen Reaktion ein besonders scharfer Kampf, ganz hervorragende Protestmittel gehörten. Es ist verfehlt, sich dabei an die äußeren, technischen Formen des Kampfes zu halten und unsern Abgeordneten etwa vorschreiben zu wollen, dass sie unbedingt Obstruktion hätten treiben sollen. Ob solche Mittel gangbar waren oder nicht, darüber müssen schließlich die Abgeordneten selbst bestimmen können. Aber was unendlich wichtiger als diese Technik des Kampfes, ist sein politischer Inhalt, sind die angewendete Taktik, die historischen Perspektiven des Kampfes, die Standpunkte und die Beleuchtung der Situation und der weiteren Tendenzen der Entwicklung, die von der Fraktion in ihren Reden wie in ihrer Abstimmung vertreten worden sind. Denn hier handelt es sich um die politische Aufklärungsarbeit, also den Hauptteil, den Schwerpunkt unsrer parlamentarischen Tätigkeit. Nicht durch Dauerreden oder durch Schlagen auf die Pultdeckel sollte revolutionäre Arbeit getan werden, sondern durch den Inhalt der Reden und durch die Abstimmung. In dieser Hinsicht aber hat die Fraktion — abgesehen von der zweiten und dritten Lesung der Wehrvorlage — wenig darauf Bedacht genommen, gerade von den aufgeklärtesten, fortgeschrittensten unsrer Truppen verstanden zu werden.

 

Freilich, wenn sich unsre Abgeordneten darauf berufen, dass man sie im Falle der Ablehnung der Besitzsteuern im Volke „nicht verstanden" hätte, haben sie nicht geschulte Genossen, sondern die zurückgebliebenen Schichten: das Bauerntum, die Zentrumsarbeiter, die Gefolgschaft der Konservativen in Ostelbien, im Auge. Merkwürdig genug! Wenn es sich um große Massenaktionen handelt, um den politischen Massenstreik zum Beispiel, dann soll der Grundsatz gelten, dass lediglich organisierte Genossen für uns in Betracht kämen, dass alles, was außerhalb unsrer Organisation steht, hoffnungslos geistesträge und indifferent sei und im politischen Kampfe nicht mitzähle. Handelt es sich aber um die parlamentarische Taktik, dann sollen nicht die organisierten Kerntruppen und ihre Empfindung, ihr Denkvermögen maßgebend sein, sondern der sogenannte „dumme Kerl" und seine politische Unreife soll als Maßstab für unser Verhalten dienen. Man vergisst, dass uns diese unreifen Schichten zum Beispiel auch Anno 1870 sicher „nicht verstehen konnten", als Bebel und Liebknecht gegen den Krieg protestierten, und dass wir — damals ein kleines Häuflein — dennoch in der Schlussrechnung sehr gut dabei gefahren sind, uns nicht nach den Vorurteilen der Unaufgeklärten, sondern nach unsern eigenen Grundsätzen zu richten.

 

Die „praktische Politik", die hier auf den Beifall des großen Haufens rechnet, ist nämlich, wie stets, eine sehr kurzsichtige Politik, die weitere Perspektiven ganz außer acht lässt. Nehmen wir an, dass diejenigen halb aufgeklärten Schichten, die nicht weiter sehen, als ihre Nase reicht, für die der Militarismus eine Geldfrage ist, einen ausreichenden Vorteil darin erblicken werden, den Reichen in die Tasche gegriffen zu haben, und deshalb der Sozialdemokratie zu ihrem „ersten Sieg" zujubeln werden. Was werden diese selben Schichten morgen sagen, wenn trotz der Versicherungen der Fraktion neue indirekte Steuern kommen — und sie werden kommen —, wenn neue Militärvorlagen und Flottenvorlagen im Reichstag folgen — und sie werden folgen —, wie wird da die Partei vor jenen Massen bestehen? Wir haben unsre Zustimmung zu den Militärausgaben aus Besitzsteuern damit begründet, dass auf diesem Wege neue Volksbelastung „verhütet" und das militärische Fieber der Bourgeoisie „abgekühlt" werde. Wenn beides sich als falsch herausstellt — und es wird sich als falsch herausstellen —, wie wird das die Volksmasse verstehen? In letzter Rechnung wäre auch in diesem Fall die grundsätzliche Politik die einzig praktische gewesen.

 

Unsre Fraktion hat sich unseres Erachtens im ganzen Verlauf des Kampfes viel zu sehr von dem Verhalten der Konservativen impressionieren lassen, sich zu sehr danach gerichtet, was jene tun und sagen, als wenn zur sozialdemokratischen Politik irgendwie die Richtschnur genügte, Antipode des Konservatismus zu sein. Unsern Genossen waren sicherlich die larmoyanten Versicherungen der Oertel und Konsorten zu Kopfe gestiegen, wir seien „die Herren der Situation". Aus den Fraktionskreisen konnte man auch in der Parteipresse wörtlich die geschmacklosen Bestätigungen lesen, dass solche Äußerungen uns außerordentlich „wohl täten". Auf eine so massive Demagogie von Leuten hereinzufallen, deren politische Kunst es seit jeher ist, „zu klagen ohne zu leiden", und die nur auf die Liberalen und auf die Regierung eine wohl berechnete Pression ausüben wollten, hatten wir sicher keinen Anlass. In Wirklichkeit war auch hier die Perspektive unsrer Abgeordneten stark getrübt, denn die „isolierten" Konservativen sahen ihre reaktionären Interessen — in den Grenzen der gegebenen Situation, nach der Annahme der Wehrvorlage durch sie selbst — von dem Zentrum und den Nationalliberalen treu wahrgenommen und geschützt. Wir hingegen, die wir tatsächlich durch den Verrat der Nationalliberalen isoliert waren und gar keine Ursache hatten, uns dieser Lage zu schämen, ja, jeden Anlass hatten, sie ganz offen vor dem Lande zu zeigen, wir triumphierten über die „Niederlage" der Konservativen und feierten das Werk der reaktionären Kuhhändler als unsern Sieg.

 

Nimmt man alles in allem, so scheint es uns, dass diese Taktik, die hinausgezogen ist, um Arm in Arm mit den Liberalen den Schwarz-Blauen Block zu zerschmettern und „eine gründliche Finanzreform" zu machen, sich dann aber mit der bescheidenen Rolle begnügte, den Wechselbalg des klerikal-nationalliberalen Kompromisses als einen ersten Anfang der Verwirklichung des sozialdemokratischen Programms heraus hauen zu dürfen, nichts als eine Probe jenes Opportunismus ist, der nach Schätzen gräbt und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.

 

1 Der Kampf um die Deckung. In: Vorwärts (Berlin), Nr 131 vom 29. Mai 1913

2 a.a.O.

3 Am 27. Juni 1913 hatte das Erfurter Militärgericht sieben Reservisten zu mehrjährigen Zuchthaus- bzw. Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie am 16. April 1913 nach einer sogenannten Kontrollversammlung der Reservisten unter Alkoholeinfluss randaliert hatten. Unter dem Eindruck dieses skandalösen Urteils nahm der Reichstag am 30. Juni 1913 auf Antrag der sozialdemokratischen Fraktion ein Notgesetz an, wodurch einige Paragraphen des Militärstrafgesetzbuches gemildert wurden.

4 Ein Ende und ein Anfang. In: Vorwärts, Nr. 164 vom 1. Juli 1913.

5 Der Kampf um die Deckung. In: Vorwärts, Nr. 161 vom 28. Juni 1913

6 Verhandlungen des Reichstags. XIII Legislaturperiode, I. Session, Bd. 290. Stenographische Berichte, Berlin 1913, S. 5927.

Tag(s) : #Militarisme. Rosa Luxemburg
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