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[Erschienen in der „Neuen Zeit", XIX. Jahrgang 1900/1901, 2. Band, Heft 50, S. 759-766. Nach Gesammelte Werke, Band 3, 1925, S. 436-445]

 

I.

fällt die wichtige Aufgabe zu, die vor sieben Jahren in Lübeck in ParteitagDem kommenden Frankfurt angeschnittene und formell offen gebliebene Frage der Budgetabstimmung in den Landtagen zur endgültigen Lösung zu bringen.

Nicht nur ist seit 1894 die Frage brennender, weil die Budgetbewilligungen durch sozialdemokratische Abgeordnete in Süddeutschland häufiger geworden. Auch die Lösung selbst ist zugleich leichter, weil die Unvereinbarkeit der Budgetbewilligung mit den Grundsätzen der Partei heute durch die gemachten Experimente viel klarer an den Tag gelegt worden ist, als es die überzeugendsten Ausführungen von Bebel und Auer vor sieben Jahren zu tun vermocht hatten. Namentlich ist in dieser Beziehung das badische Experiment unschätzbar.

Wenn die Anhänger der Budgetbewilligung von Anfang an die Frage nicht unter dem Gesichtspunkt des Prinzips, sondern unter dem der Taktik betrachtet wissen wollten, so konnte dies offenbar nur den einen Sinn haben: sie wollten sich für eventuelle Ausnahmefälle freie Hand lassen, wo ihnen eine besondere politische Konstellation die Annahme des Budgets gebieten würde. Stadthagen, dessen Amendement in Frankfurt in der Bebelschen Resolution ein Hintertürchen durchbrechen wollte, hatte im Auge – und mit ihm die Mehrheit, die das Amendement votierte – den Fall im hessischen Landtag, wo nach der Darstellung des Mainzer Delegierten Joest die Ablehnung des Budgets eine Vergrößerung der Steuerlast in Hessen nach sich hätte ziehen können. Jaurès, in seiner Polemik gegen die prinzipielle Budgetablehnung, beruft sich auf die vor Jahren einmal vorgekommene exzeptionelle Lage, wo die Ablehnung des Budgets in Frankreich den Fall des Ministeriums und mit ihm der Gesetze über die Weltlichkeit der Schule, also einen empfindlichen Verlust für die Sache des Fortschritts und der Demokratie herbeigeführt haben würde. Auch die bayerischen Abgeordneten im Jahre 1894 riefen ihren Kritikern zu ihrer Verteidigung wie ein Mann entgegen: „Wir haben Gründe!…"

In allen diesen Fällen gestaltete sich also die Kontroverse folgendermaßen: Während auf der einen Seite behauptet wurde, die Sozialdemokratie könne niemals, unter keinen Umständen dun bürgerlichen Staate die Existenzmittel bewilligen, hielt man auf der anderen daran fest, dass es Fälle geben könne, wo diese unsere im versöhnliche Oppositionsstellung mit unmittelbaren, handgreiflichen Interessen der Arbeiterklasse in Konflikt geraten, wo erhebliche Interessen der Volksmasse durch die Verweigerung des Budgets geschädigt würden.

Inbetrachtziehung von Ausnahmefällen, Berücksichtigung unmittelbarer praktischer Erfolge, wo ihnen die prinzipielle Budgetablehnung angeblich in den Weg tritt – das war es also, was man füglich unter der taktischen Auffassung der Frage verstehen konnte.

Welches waren nun die besonderen Gründe der badischen Abgeordneten, als sie dreimal in den letzten Jahren das Budget bewilligt haben?

führt in seinem Artikel in den „Sozialistischen Monatsheften" (Septemberheft 1901) zweierlei ins Feld: Erstens überwiegen die „Kulturausgaben" im Staatshaushalt Badens, und wenn wir die Mehrheit der Posten bewilligt haben, wäre es Unsinn, das Ganze abzulehnen; zweitens würden uns die Massen nicht verstehen, wenn wir Reformen forderten und gleichzeitig die Mittel zu ihrer Ausführung verweigerten. Diese Gründe kann man nun einschätzen, wie man will, eines geht aber aus ihnen auf alle Fälle hervor: sie haben mit irgendeiner ausnahmsweisen politischen Situation in FendrichBaden, mit irgendwelchem Konflikt zwischen Prinzip und praktischer Politik, mit irgendwelchen taktischen Rücksichten auf die Lage des Augenblicks nicht das geringste zu tun. Es sind dies lediglich Hinweise auf bestimmte Verhältnisse ganz allgemeiner Natur. Es ist nämlich eine ständige Erscheinung, dass in den Etats der deutschen Einzelstaaten, in Bayern wie in Baden, in Hessen wie in Württemberg, die von Fendrich als „Kulturausgaben" aufgefassten Posten (alles, ausgenommen Polizei, Zivilliste und Apanagen) den größeren Teil bilden. Es wäre nicht minder eine ständige Erscheinung, wenn „die Massen" unsere Parlamentspolitik nicht verstehen sollten. Hat man also für die badische Budgetbewilligung keine anderen als die angeführten Gründe gehabt, dann ergibt sich daraus vor allem die Notwendigkeit, stets und in allen Einzelstaaten für den Etat zu stimmen. Das bestätigt auch Fendrich selbst: „Wenn man von diesem Gesichtspunkt aus die Dinge beurteilt, schreibt er, dann kann gar kein Zweifel darüber herrschen, dass die sozialdemokratischen Abgeordneten in den Landtagen – wenn sie keine außerordentlichen Aktionen gegen die Regierungen ins Werk setzen wollen, wie zum Beispiel die badische Fraktion im Jahre 1898 anlässlich des Misstrauensvotums gegen den Minister Eisenlohr – im allgemeinen für den Etat stimmen müssen" („Sozialistische Monatshefte", S. 657).

Auf diese Weise sehen wir die Frage auf den Kopf gestellt. Anfänglich hieß es: Im Allgemeinen stimmen wir natürlich als oppositionelle Partei gegen das Budget, aber es kann außerordentliche Fälle geben, wo wir für das Budget stimmen müssen. Heute heißt es umgekehrt: Im Allgemeinen stimmen wir in allen Landtagen für das Budget, aber es kann auch außerordentliche Fälle geben, wo wir gegen das Budget stimmen. Anfänglich sollte die Bewilligung eine Ausnahme, heute soll es die Ablehnung sein, anfänglich sollte die Opposition der Sozialdemokratie im Parlament die Regel, heute soll sie eine Ausnahme bilden.

Die Sachlage, der gegenüber sich der Lübecker Parteitag befindet, ist somit eine grundverschiedene von der, welche den Frankfurter beschäftigte. Die Gegner der prinzipiellen Budgetverweigerung haben allmählich unvermerkt für sich die Konsequenzen gezogen, und es handelt sich heute nicht mehr darum, ob wir in außerordentlichen Fällen den Etat bewilligen sollen, sondern ob regelmäßige Budgetverweigerung oder regelmäßige Budgetbewilligung für uns in den Landtagen die Losung sei.

Diese Frage bedeutet offenbar mit anderen Worten: Sollen wir sozialdemokratische oder bürgerliche Parlamentspolitik treiben?

Denn indem man dem Klassenstaat im Prinzip stets die Existenzmittel gewährt und bloß in Ausnahmefällen verweigert, indem man somit das ständige Misstrauensvotum gegen den Klassenstaat in ein zufälliges Misstrauensvotum gegen ein spezielles Ministerium verwandelt, stellt man sich grundsätzlich auf den Boden des existierenden Staates und bekämpft bloß manche seiner Einzelerscheinungen, seine „Unvollkommenheiten". Es ist dies der regelrechte Standpunkt des hochseligen deutschen Fortschritts, des heutigen Freisinns, der englischen Liberalen, kurz – der bürgerlichen Opposition in allen ihren Abarten.

II.

Wie in der allgemeinen Fragestellung, bestätigt sich der bürgerliche Standpunkt in allen Einzelheiten der badischen Beweisführung.

Fendrich und seine Genossen argumentieren folgendermaßen: Von dem Gesamtetat Badens haben wir in Einzelabstimmungen bloß ein Sechsundzwanzigstel verweigert, wie geht es nun an, dass wir in der Gesamtabstimmung wegen diesem lumpigen Sechsundzwanzigstel, wegen elender 18 Millionen Mark, alles ablehnen?

Vom bürgerlichen Standpunkt ist dies ein tadelloses Räsonnement.

Wo man in der Hauptsache mit der Regierung ein Herz und eine Seele ist und nur wegen kleiner Verschiebungen im Mechanismus scharmützelt, da läuft die ganze Parlamentspolitik auf einfaches Rechenexempel, auf ein Addieren und Subtrahieren hinaus. Ein paar Millionen hier abgezwackt, ein paar dort zugelegt, ein paar andere gestrichen – und die Gegner sind quitt. Man hat aber in Baden offenbar vergessen, dass die Sozialdemokratie in der ganzen Geschichte, also auch in den bewilligten fünfundzwanzig Sechsundzwanzigsteln des Etats, ein Haar finden dürfte, und dieses wäre der Umstand, dass wir in der kapitalistischen Gesellschaft und im Klassenstaat leben.

Wenn wir nämlich auch ohne weiteres zugeben, dass der heutige Staat, wie jede andere geschichtliche Organisation der Gesellschaft, bestimmte gemeinnützige Funktionen ausführt, so verlieren wir doch nicht aus dem Auge, dass die Art und Weise, wie er sich dieser Funktionen entledigt, in allem das Gepräge der bürgerlichen Klassenherrschaft trägt. Wir sind selbstverständlich für die Entwicklung des Verkehrswesens, aber nicht für die Eisenbahnpolitik des kapitalistischen Staates. Wir sind für die Hebung des Volksunterrichts, aber nicht für seine heutigen Formen. Wir wünschen öffentliche Ordnung und Ruhe, aber verdammen die heutige vom Geiste des Privateigentums beherrschte Gesetzgebung, Justiz und Verwaltung. Es sind somit nicht allein die Apanagen, die Polizei und die Zivilliste, nicht bloß überflüssige Ausgaben, was wir an einem heutigen Staate auszusetzen haben, sondern wir müssen als Sozialdemokraten das gesamte Tun und Lassen des Klassenstaats bekämpfen. Dieser kapitalistische Charakter jeder Handlung, jeder Einnahme und jeder Ausgabe des Staates lässt sich aber nicht in Zahlen fassen, lässt sich nicht mit irgendeinem bestimmten Posten des Budgets ablehnen. Nur durch die schließliche Ablehnung der Summa auch dort, wo wir einzelne Posten an sich bewilligt haben, nur durch die Ablehnung des Ganzen, worin sich die materielle Existenz des Klassenstaats widerspiegelt, lässt sich unsere Opposition zum Ganzen des Klassenstaates ausdrücken.

Was tun aber Fendrich und seine Kollegen? Sie heben an mit einer großen Kritik des gesamten Treibens der Regierung, um dann zu gestehen, dass ihnen eigentlich an dem heutigen Staate nur „die Polizei" und die Zivilliste ein Dorn im Auge sind. Indem sie aber erst von dem Gesamtbudget des badischen Staates einige Millionen abhandeln und dann alles zusammen bewilligen, sprechen sie damit nicht mehr und nicht minder als Folgendes aus: Wenn wir Sozialdemokraten heute ans Ruder kämen, wir würden auch nichts anderes tun, als die paar überflüssigen Polizisten und den Großherzog abschaffen, im sonstigen würden wir genau dasselbe löbliche Regiment führen, wie der heutige Staat. Sie erkennen damit nicht nur die Existenzberechtigung des heutigen Staates als einer geschichtlichen Erscheinung an, sondern die Berechtigung seiner heutigen Gestalt, seiner Handlungsweise, seiner inneren und auswärtigen Politik. Dass sie dabei, bevor sie zu allem Ja und Amen sagen, an einigem erst mäkeln, das ist nicht mehr sozialdemokratische Opposition, sondern Kleinkrämerei und Inkonsequenz. Denn, nimmt man die ganze Verwaltung, Justiz und Gesetzgebung in Kauf, warum die armen Polizisten aushungern? Und lässt man das teure Vaterland mit allem Bestehenden, was da kreucht und fleucht, ruhig leben, warum dann durch kleinliche Knauserigkeit den Landesvater um die paar Mark bringen? Die badischen Budgetbewilliger haben eben nicht bemerkt, dass sie den parlamentarischen Kampf um den Etat aus einem Mittel, die bestehende Gesellschaftsordnung zu bekämpfen, in ein Mittel verwandelt haben, dem Finanzminister einige Millionen abzuzwacken.

Allerdings hat Fendrich recht: Vor der bloßen Budgetverweigerung unserer sieben Mann im Landtag werden die Mauern des kapitalistischen Jericho noch nicht fallen. Wir werden allerdings durch unsere „Intransigenz" (Unbeugsamkeit) nichts „erreichen", nämlich nichts, was sich zählen, messen, oder in die Tasche stecken lässt. Aber wir „erreichen", wie gerade das badische Experiment zeigt, auch durch die wiederholte Bewilligung des Budgets nichts Handgreifliches, es seien denn die üblichen Fußtritte, mit denen die Arbeiterklasse von dem badischen Staate regaliert wird.

Wenn wir also materiell und unmittelbar durch unsere Budgetbewilligung ebenso wenig gewinnen, wie durch unsere Budgetverweigerung, dann können wir mit um so leichterem Herzen verweigern, als uns die bisherige starre „Intransigenz" einen großen immateriellen Vorteil eingebracht hat: nämlich das Vertrauen der Volkskreise und die Achtung der Gegner, die 2¼ Millionen sozialdemokratische Stimmen im Reiche und das gewaltige Ansehen einer unbeugsamen und ehrlichen Partei, – lauter ideelle Größen freilich, denen wir aber in letzter Linie sowohl die gesamte deutsche Sozialreform wie alle praktischen Abschlagszahlungen verdanken, die wir bis jetzt abgetrotzt haben. Und – last not least – hat uns unsere bisherige „Intransigenz" auch unsere verehrten sieben Landtagsabgeordneten in Baden beschert, die offenbar auf den moralischen Kredit der alten „starrdogmatischen" Sozialdemokratie hin gewählt wurden und nicht etwa aus Rücksicht auf die besondere Befähigung Fendrichs und Genossen, die Budgets zu bewilligen, denn dies besorgt der erste beste Nationalliberale mit viel mehr Geschick und Grazie.

Nehmen wir das andere Argument: die Befürchtung, dass „die Massen" uns nicht verstehen würden.

Es ist tatsächlich unser trauriges Schicksal, dass wir, solange wir irgendeine bestimmte Politik treiben, und mögen wir uns drehn und wenden, wie wir wollen, doch von „den Massen", das heißt von irgendeinem Teile dieser Massen, nicht verstanden werden. Es fragt sich bloß, von wem wir verstanden werden wollen und an wessen Verständnis uns bei unserer Politik liegen muss.

Wenn die Sozialdemokratie, trotz aller teilweisen Reformen, die sie vom Staate fordert und hie und da auch eventuell erreicht, dem Staate bei jeder Budgetabstimmung zum Schlusse ein hartnäckiges Nein entgegensetzt, so gibt es selbstverständlich jeder Zeit und allerorten Elemente in der Bevölkerung, die ein solches Beginnen verkehrt, zwecklos, widerspruchsvoll, unpraktisch, ja wahnsinnig finden werden. Aber wer sind diese Elemente? Es werden dies Kleinhändler, Handwerker, Bauern oder sonstige Kleinbürger sein, für die der ganze Zweck der parlamentarischen Tätigkeit einer Volkspartei darin besteht, die Steuerlast zu mindern, den Militärdienst zu erleichtern und dergleichen irdische Labsale auf das kapitalistische Jammertal auszugießen. Es werden dies Volkskreise sein, denen nur unsere praktische Tätigkeit wichtig, dagegen unsere Endziele Hekuba sind, die in unserer Politik nur das Reformatorische und nicht das Revolutionäre unterstützen. Mit einem Worte Elemente, die in ihrem ganzen Denken und Streben selbst auf bürgerlichem Boden stehen.

Und umgekehrt. Wird die sozialdemokratische Partei, trotz ihrem revolutionären Endziel und trotz der Todfeindschaft zum kapitalistischen Klassenstaat, ihm systematisch die Existenzmittel gewähren, so werden dies „die Massen" sicher wieder nicht verstehen, ihr Beginnen für widerspruchsvoll, zwecklos, ja für Wahnsinn und Heuchelei halten. Aber diesmal werden es nicht kleinbürgerliche Kreise sein, die uns nur eine lose Gefolgschaft auf Lohn und Zeit leisten, sondern unsere eigenen Kerntruppen, die industriellen Arbeiter, denen wir jahrzehntelang einredeten, dass wir mit allen Mitteln dahin streben, den heutigen Staat in sein Gegenteil zu verwandeln, vor denen wir an diesem Staat kein gutes Haar ließen, denen wir die Unzulänglichkeit der sozialreformerischen Flickarbeit und die Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung unzählige Male erklärten.

Im ersteren Falle würden uns unsere Nachläufer nicht verstehen, weil wir uns durch die Ablehnung des Budgets in Widerspruch zu ihren unbegründeten Erwartungen und verkehrten Vorstellungen von der Sozialdemokratie setzten. Im zweiten Falle würden uns unsere geschulten Anhänger nicht verstehen, weil wir uns durch die Annahme des Budgets in Widerspruch zu unseren eigenen Worten und Erklärungen setzten. Dass für Fendrich und Genossen bei dieser Alternative das erstere, die Meinungen des Kleinbürgertums und nicht der aufgeklärten Arbeiterschaft ausschlaggebend sind, das ist ein Beweis mehr dafür, dass die Budgetbewilligung auf die bürgerliche Auffassungsweise berechnet ist.

Die sogenannte „Dummheit der Massen", die seit jeher als der Sündenbock bei allerlei Prinzipienverstößen aufmarschiert, ist im Grunde genommen nichts anderes als die Beschränktheit derjenigen, die sich auf diese Dummheit berufen. Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient, und jede Partei hat die „Masse", die ihrer wert ist. Wenn die „Masse" wirklich einmal unsere Tätigkeit dort, wo wir uns treu bleiben, nicht begreifen würde, so folgte daraus nur, dass wir entweder die Volkskreise nicht genügend über unser wirkliches Wesen und Streben aufgeklärt und dadurch falsche Vorstellungen hervorgerufen haben, oder dass wir uns an Kreise wendeten, die kraft ihrer sozialen Lage nicht oder noch nicht imstande sind, uns zu verstehen, und deren Verständnis oder Unverständnis uns deshalb nicht maßgebend sein kann.

Indem Fendrich und Genossen uns von „allgemeinen Gefühlseindrücken" und „intuitiver (durch Eingebung erreichter) Erkenntnis des nüchternen Menschenverstandes bei den Leuten aus dem Volke" reden, unterstellen sie den „Leuten aus dem Volke" die eigenen Ansichten der „praktischen Politik", das heißt des Opportunismus, und wo sie die Verständnislosigkeit „der Massen" vorschützen, zeigen sie nur ihre eigene Verständnislosigkeit für das Wesen der sozialdemokratischen Parlamentspolitik.

 

III.

Fendrich und Genossen können sich freilich auch den Fall denken, wo sie rebellisch werden und die Regierung mit einem Misstrauensvotum mal tüchtig schrecken können. Aber bevor diese „außerordentliche Aktion" in Baden inszeniert wird, muss es schon mindestens Pech und Schwefel regnen. Denn vorläufig „werden die sozialdemokratischen Fraktionen der Landtage in jeder Beziehung als gleichberechtigt mit den anderen anerkannt" (Seite 656 und 661), und solange diese „Gleichberechtigung" währt, geloben Fendrich und seine Freunde, dass sie für ein Misstrauensvotum an ihre Regierung nicht zu haben sind.

Worin die famose „Gleichberechtigung" der badischen Sozialdemokraten im Landtag besteht, ist eigentlich schwer zu sagen. Offenbar darin, dass Fendrich in dem Landtag frei herumspazieren darf, ohne dass ihm jemand absichtlich auf die Hühneraugen tritt, und dass ihm der Präsident nicht zuruft, sobald er zu reden beginnt: Halten Sie doch den Mund, Sie dämlicher Sozialdemokrat! Das sind allerdings paradiesische Zustände. Nur ist Fendrich und seinen Kollegen das kleine Versehen passiert, dass sie sich selbst, sieben Mann, mit der badischen Arbeiterklasse verwechselt haben. Diese ist nämlich nicht ganz so „gleichberechtigt" im Staate, wie ihre beneidenswerten Vertreter in der Kammer. Ihr tritt die Polizei sogar sehr oft auf die Hühneraugen, zum Beispiel, wenn sie ihre Klassenfeier, den 1. Mai, begehen will. Sie lässt der Staat nicht immer bei öffentlichen Angelegenheiten den Mund auftun, so zum Beispiel nicht bei den Wahlen. In Baden gibt es kein allgemeines direktes Wahlrecht zum Landtag, aber Fendrich fühlt sich „in jeder Beziehung gleichberechtigt"! Es gibt kein allgemeines direktes Gemeindewahlrecht, aber trotzdem schwelgt Fendrich im Vollgenuss der konstitutionellen Freiheiten! Die Arbeiter und Angestellten der badischen Staatseisenbahnen petitionieren umsonst um Erhöhung ihrer Hundelöhne, aber Fendrich fühlt sich nach wie vor „gleichberechtigt"!

Ja, die badische Regierung arbeitet im löblichen Eifer zusammen mit den anderen verbündeten Regierungen für die deutsche Arbeiterklasse die Zuchthausvorlage aus, sie beteiligt sich mit anderen an der deutschen Weltpolitik, am Chinakrieg, am Länderraub, sie betreibt mit anderen den Brotwucher, – aber Fendrich sitzt im Karlsruher Landtag und erklärt: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts, ich bin ganz „gleichberechtigt". Und endlich oder vielmehr zu allererst: die Arbeiterklasse lebt im regelrechten System der Lohnsklaverei, sie lebt unter dem Regime der kapitalistischen Klassenherrschaft – aber ihre Vertreter im Parlament fühlen sich „in jeder Beziehung gleichberechtigt"! Sozialdemokratische Abgeordnete werden in den Landtag geschickt als Ausdruck des Protestes gegen die Entrechtung, die Versklavung, die Unterdrückung der Arbeiterklasse, sie treten in den Landtag und erklären: Es tut uns leid, wir sind „in jeder Beziehung so gleichberechtigt", dass es uns unmöglich ist, dem kapitalistischen Staate ein Misstrauensvotum zu geben!

Hier haben wir wieder von einer neuen Seite die rein bürgerliche Auffassung des parlamentarischen Kampfes vor uns. Nicht die sozialen, nicht die politischen Verhältnisse im Lande, nicht die allgemeine Lage der Volksmasse sind maßgebend für die Haltung im Parlament, sondern die formellen Verhältnisse innerhalb der Kammer selbst. Solange man um die Wette mit anderen in dem großen Bassin der parlamentarischen Beredsamkeit wie die Ente im Teiche herum plätschern darf, ist man „in jeder Beziehung gleichberechtigt", und Fendrich wird die Klassenentrechtung des badischen Proletariats nicht eher zugeben, als bis ihn der Portier aus dem Landtagssaal direkt hinaus schmeißt und ihm seinen Überzieher nach wirft. Dann! – ja, dann wäre allerdings auch er bereit, das Budget zu verweigern.

IV.

Es ist tatsächlich unverkennbar, dass das ganze Räsonnement unserer badischen Parlamentarier eine Verleugnung der elementarsten Begriffe der Sozialdemokratie darstellt. Die Abschätzung des Klassencharakters des Staates nach einzelnen Etatsposten, anstatt nach dem Gesamtcharakter seiner Tätigkeit, die Anpassung der sozialdemokratischen Handlungsweise an Begriffe und Wünsche von Bevölkerungskreisen, welche von den Endzielen der Sozialdemokratie nichts wissen und nichts wissen wollen, endlich die Lostrennung der Parlamentspolitik von der allgemeinen sozialen Lage des Proletariats und der Politik der deutschen Einzelstaaten von der allgemeinen politischen Lage im Reiche, – das sind Merkmale dafür, dass man sich in gewissen Kreisen der Partei bereits glücklich bis zu einem Punkte durch gemausert hat, wo die sozialdemokratische Denkweise zu verschwinden beginnt. Es ist deshalb höchste Zeit, diesen Kreisen in Erinnerung zu rufen, dass für die Sozialdemokratie die Verwerflichkeit des heutigen Staates nicht in seinen Ausgaben für Apanagen, Polizei und Zivilliste, sondern in seinem ganzen Wesen, in seiner gesamten Tätigkeit besteht; dass sozialdemokratische Abgeordnete gewählt werden, nicht um wild gewordenen Kleinbürgern nach dem Munde zu reden, sondern um die Wünsche und Ansichten klassenbewusster Proletarier zu vertreten, dass es ferner keine badische, bayerische, hessische usw. Sozialdemokratie gibt, die jede für sich nur ihre politische Extrarechnung mit ihrem Staate führt, sondern lediglich eine deutsche Sozialdemokratie; und dass endlich ein deutscher Sozialdemokrat im Parlament solange sich nicht als „gleichberechtigt" und zu Vertrauensvoten an die Regierung verpflichtet fühlen darf, als die deutsche Arbeiterklasse das kapitalistische Lohnsystem nicht abgeschüttelt hat.

Im Anfang steuerte die Theorie der Budgetbewilligung unter der Flagge der „praktischen Politik" einher. Es handelte sich angeblich um „Ausnahmefälle", wo wichtige materielle Vorteile durch die eigensinnige „Intransigenz" verscherzt, wo schwerwiegende Nachteile durch die Bewilligung von der Arbeiterklasse abgewehrt werden könnten.

Die „außerordentlichen Fälle" in der Art des hessischen Falles haben sich indes seitdem nicht wiederholt, die Sozialdemokratie ist nicht wieder in eine Zwangslage gekommen, aber die Budgetbewilligung ist im Süden beinahe zur lieben Gewohnheit geworden.

Fragt man, welchen praktischen, unmittelbaren Nutzen die Partei von dieser systematischen Verletzung der sozialdemokratischen Grundsätze hat, so kriegt man ein verlegenes Schweigen zur Antwort. Und fragt man, aus welchem Grunde sie denn ohne jeden ersichtlichen Zweck begangen wurde, so stellt es sich heraus, dass die Budgetbewilligung überhaupt eine schöne Gegend ist und keiner besonderen Rechtfertigung bedarf.

Sich demnach jetzt noch auf den Boden der Debatten über Prinzip und Taktik, über „außerordentliche Situationen" und Konflikte „praktischer Interessen" mit der starren Budgetverweigerung verlocken zu lassen, wäre vom Lübecker Parteitag eine unverzeihliche Naivität. Es hat sich nachgerade klar genug gezeigt, dass diese abstrakten Fälle und „taktischen Rücksichten" nur Mittel sind, um in das Prinzip eine Bresche zu legen.

in BebelSelbstverständlich kann es Fälle, wo wir gezwungen wären, unser Programm zu verraten, in Wirklichkeit gar nicht geben. Eine klipp und klare Antwort auf alle Schmerzen wegen etwaiger materieller Verluste in solchen Extrasituationen hat Frankfurt gegeben: Wir sind nicht schuld, wenn die bügerliche Majorität zufällig unsere Budgetverweigerung zu ihren reaktionären Vorhaben benutzen kann. Wir unsererseits verweigern jede Belastung des Volkes, wir bekämpfen jede Reaktion. Und die Erklärung werden alle die Volkskreise verstehen, die reif genug sind unsere Bestrebungen überhaupt zu verstehen.

Es muss deshalb endlich eine Weisung ohne jeden „taktischen" Durchschlupf an unsere Landtagsabgeordneten gegeben werden, und die wird der durch eine siebenjährige Erfahrung gewitzigte Lübecker Parteitag hoffentlich mit mehr Glück als sein Vorgänger zustande bringen.

 

 

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