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0. Dezember 1898. Franz Mehring: Militarismus oder Miliz?  Leipziger Volkszeitung, Nr. 286,1

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 286, 10. Dezember 1898. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 269-271]

Es gehört zu den Folgen der so genannten „praktischen Politik", dass sie glücklich die seit 35 Jahren immer klare und unerschütterliche Stellung der Sozialdemokratischen Partei zum Militarismus in einige Verwirrung zu bringen droht. Nach dem berufenen Worte von der „Kanonenpolitik", das, wenn es kein Prinzipienverrat gewesen sein soll, nur eine „geschwollene", rein ins Blaue hinaus geschleuderte „Redensart" gewesen sein kann, hat ein „Isegrim" sich in den „Sozialistischen Monatsheften" zu der famosen Leistung verstiegen, in Engels einen Gegner der Miliz und also einen wenn nicht offenen, so doch verschämten Anhänger des Militarismus zu entdecken. Geführt wird dieser Beweis auf dem, in der bürgerlichen Presse nichts weniger als ungewöhnlichen, aber in der sozialdemokratischen Presse bisher noch nicht betretenen Wege, einzelne Äußerungen von Engels aus einzelnen Gelegenheitsschriften, die Jahrzehnte, teilweise sogar ein ganzes Menschenalter auseinander liegen, zu einem scheinbar logischen Ganzen zusammenzuflicken. „Isegrim" arbeitet nach dem bekannten Satze eines französischen Polizeiministers: Gebt mir drei Sätze, die ein Mann geschrieben hat, und ich bringe ihn damit an den Galgen.

Indes ist es nicht unsere Absicht, gegen „Isegrim" zu polemisieren, da Kautsky das Notwendige schon in der „Neuen Zeit" mit ebenso viel Eleganz wie Gründlichkeit besorgt hat. Wir möchten hier nur eine andere Seite der Sache beleuchten, nämlich die historische Bedeutung der Worte Militarismus und Miliz, die im Mittelpunkte des Streites stehen. Es ist mit solchen Schlagworten, in denen sich ganze historische Entwickelungen zusammenfassen, ja allerdings ein eigen Ding; sie können durch jahrzehntelangen Gebrauch so abgegriffen werden, dass ihr ursprüngliches Gepräge schwer zu erkennen ist und gutgläubige Leute auf das plötzlich erhobene Geschrei: Die Münzen sind ja gar nicht echt! leicht stutzig werden können. So nur vermögen wir es uns zu erklären, dass „Isegrims" und der „Kanonenpolitiker" Stimmen sich überhaupt in der Partei haben erheben können, ohne dass sofort ein allgemeiner Sturm des Unwillens losgebrochen ist.

Um dies zu erhärten, braucht man die Worte Militarismus und Miliz nur ins Deutsche und Deutliche zu übersetzen; sie lauten dann einfach: Soll der Wille des die besitzenden Klassen vertretenden Königtums oder soll der Wille des die arbeitenden Klassen umfassenden Volkes entscheiden? Ein Mittelding zwischen beiden gibt es nicht oder höchstens nur in dem Sinne, dass die Herrschaft des Königtums mit einem Schleier umgeben wird, unter dem das Volk desto gründlicher eingeseift werden kann, was man mit einem fremdsprachigen Ausdrucke Scheinkonstitutionalismus nennt.

Historisch ist der Militarismus gar nichts anderes als das Mittel, durch das sich der moderne Absolutismus in der Geschichte durchgesetzt hat. Ohne den miles perpetuus, ohne das stehende Heer, wäre die absolute Monarchie unmöglich gewesen, und wo sie bestanden hat oder besteht, da bestand oder besteht sie durch den Militarismus. Deshalb richtete die bürgerliche Klasse überall, wo sie sich hinreichend kräftig fühlte, um den Absolutismus zu stürzen, ihre ersten Angriffe auf das stehende Heer. Vollständig hat sie ihr Ziel nur erreicht in England; nachdem sie hier das stehende Heer beseitigt und die Verfügung über die Machtmittel des Staats in die Hand des Parlaments gelegt hatte, konnte sie sich sogar den Luxus gestatten, das nunmehr machtlose Königtum als „kostspieliges, aber unschädliches Kapital an der Säule des Staats" fortbestehen zu lassen. Umgekehrt zeigt Frankreich, und ganz besonders drastisch in seinem gegenwärtigen Zustande, dass auch nach der formellen Beseitigung der Monarchie der Absolutismus ruhig weiter herrscht, solange es ein stehendes Heer gibt.

Nun hat sich freilich der Militarismus, je mehr er bedrängt wurde, die volksfreundliche Maske vorgesteckt, als sei er nicht dazu da, die Interessen des Absolutismus gegen äußere und innere Feinde zu vertreten, sondern vielmehr dazu, das Vaterland gegen Angriffe von außen zu schützen. Aber täuschen lassen können sich durch diese Maske doch nur Leute, die des Glaubens leben, dass eine Nation ohne Hilfe des Absolutismus unfähig sei, sich selbständig gegenüber anderen Nationen zu behaupten. Und solche Leute wird es mindestens in der deutschen Sozialdemokratie nicht geben.

Wer also an die Unmündigkeit der Nation und insbesondere auch der Arbeiterklasse als des Kerns der Nation glaubt, der muss sich allerdings zum Militarismus bekennen, auf dass ihn morgen nicht der Russe frisst. Wer dagegen meint, dass eine Nation, und nun gar eine große Nation wie das deutsche Volk, ihre Rüstung gegen auswärtige Feinde ebenso gut oder vielmehr dreimal so gut wie der Absolutismus besorgen kann, der muss zur Miliz schwören. Denn historisch ist die Miliz nichts anderes als die allgemeine Volksbewaffnung aus eigener Machtvollkommenheit des Volkes. Wenn in das Wort ein gewisser schiefer, schielender und selbst lächerlicher Nebensinn gekommen ist, so trägt die Schuld daran die Tölpelei der bürgerlichen Opposition, die in der preußischen Konfliktszeit für die schweizerische Miliz schwärmte, ohne zu bedenken, dass die Heeresverfassung eines Volkes im genauesten Zusammenhang mit allen seinen sonstigen Lebensbedingungen stehen muss und dass somit, was sich für die kleine neutrale Alpenrepublik schickte, noch nicht für eine im Herzen Europas gelegene, zwischen anderen Großmächten eingekeilte Großmacht mit offenen und weit gestreckten Grenzen passend war. Über diese schnurrige Milizschwärmerei spottete Engels allerdings mit Recht, woraus „Isegrim" sehr mit Unrecht folgert, dass Engels überhaupt „nicht milizgläubig" gewesen sei. Will man durchaus auf ein historisches Beispiel exemplifizieren, so bietet sich viel passender die französische Miliz aus den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts dar, die in Verteidigung ihrer durch die Revolution erworbenen Rechte die stehenden Heere des österreichischen und des preußischen Despotismus zusammen drosch, dass diesen „glorreichen" Linientruppen Hören und Sehen verging.

Doch kommt es uns hier nicht auf historische Betrachtungen, sondern auf eine grundsätzliche Klarstellung der Worte Militarismus und Miliz an. Je mehr sich die Feinde der Arbeiterklasse bemühen, diese Worte in ihrem Sonderinteresse zu verdrehen, umso mehr müssen die Arbeiter sich hüten, in die plumpe Falle zu tappen. Für sie ist der alte, unerschütterliche und unversöhnliche Widerstand gegen den Militarismus um so notwendiger, als die bürgerliche Klasse in Deutschland ihren grundsätzlichen Kampf dagegen aus bekannten Gründen längst aufgegeben hat, ja sogar, ins absolutistische Horn stoßend – man lese nur Eugen Richters „Zukunftsbilder"! –, den sozialdemokratischen Widerstand als „Wehrlosmachung des Vaterlandes" denunziert. Seide hat sie dabei allerdings nicht gesponnen, so wenig, wie die Sozialdemokratische Partei Seide spinnen würde, wenn sie auf die „Isegrims" und die „Kanonenpolitiker" hören wollte.

Daran ist nun gewiss nicht zu denken, aber dann ließe sich auch wohl der staatsmännische Drang zügeln, mit dergleichen konfusen Spielereien die Bourgeoisie zu amüsieren.

Tag(s) : #Militarisme. Rosa Luxemburg
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