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09.02.1898. Franz Mehring, China im Reichstag .

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98. Erster Band, S. 641-643. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 214-217]

 

Die Verhandlungen, die gestern im Reichstag über den Pachtvertrag mit China geführt worden sind, bestätigen die an dieser Stelle wiederholt kundgegebene Auffassung, dass die Regierung mit diesem Köder die bürgerliche Opposition zum guten Teile eingefangen habe. Das ließ sich selbst an der Rede des freisinnigen, geschweige denn des ultramontanen Fraktionsredners spüren. Die Behauptung Richters, dass er in seiner Zeitung nicht schärfer geschrieben habe, als er gestern im Reichstag sprach, war durchaus nicht richtig. Gleichviel, ob er sich inzwischen selbst eines Besseren besonnen oder dem Drängen seiner Partei ein Opfer seiner Einsicht gebracht hat, so kam er gestern der Regierung viel weiter entgegen, als nach der früheren Haltung der „Freisinnigen Zeitung" anzunehmen war. Daran ist jedenfalls kein Zweifel, dass er im Sinne auch der radikaleren Freisinnigen gesprochen hat.

 

Trotzdem wäre es unbillig, von einem freisinnigen „Gesinnungswechsel" in tadelndem Sinne zu sprechen. Wir haben schon früher wiederholt darauf hingewiesen, dass die Opposition der Bamberger und Richter gegen die Kolonialpolitik, so heftig sie sich gebärdete, keine prinzipielle, sondern eine kalkulatorische Opposition war; sie richtete sich nicht sowohl gegen die Kolonialpolitik überhaupt, als gegen die unprofitable Kolonialpolitik, die bisher vom Deutschen Reiche betrieben worden war. Es ließ sich voraussehen, dass der freisinnige Wind sofort aus einem anderen Loche pfeifen würde, wenn irgendwelche Profite bei der Kolonialpolitik herausschauen würden. Nachdem diese Möglichkeit durch den Pachtvertrag mit China geschaffen worden ist, tritt der Umschlag sofort ein, bei der Freisinnigen Vereinigung ohne alle weiteren Redensarten, bei der Freisinnigen Volkspartei noch mit einigen Wenn und Aber, mit denen es übrigens auch nicht weit her ist. Jeder kapitalistische Kater schnurrt behaglich, wenn er Profit wittert; das ist seine Natur, die ihm nicht ausgetrieben werden kann. Und nicht daraus ist dem freisinnigen Kater ein Vorwurf zu machen, dass sich seine Raubnatur äußert, wie sie sich äußern muss, sondern nur daraus, dass er diese Natur zu verbergen sucht und sich in seinem offiziellen Programm als ein harmloses Geschöpf aufspielt, das alle Klassen der Bevölkerung mit gleicher Liebe umspanne.

 

Bis auf die sozialdemokratische Fraktion brachten sämtliche Parteien des Hauses dem neuen Staatssekretär des Auswärtigen eitel Bewunderung entgegen, und so hatte er es leicht, den „zweiten Bismarck" zu spielen. Als solchen feierte ihn gestern im Reichstag schon der alte Gründer v. Kardorff und feiert ihn heute in mächtig daher tönenden Lobgesängen die freisinnige Presse. Ein nüchternes und nicht von Profitwut verblendetes Urteil wird in der Rede des Herrn v. Bülow vergebens nach den Spuren überquellender Genialität suchen. Er scheint ein in seiner Art geistreicher und munterer Plauderer zu sein, aber weder in seinen ökonomischen noch in seinen politischen Ausführungen lässt sich etwas entdecken, was über die landesübliche Trivialität hinausgeht. Es müsste denn sein, dass einige bei den Haaren herbeigezogenen Zitate seinen Bewunderern so gewaltig imponieren. Beispielsweise kleidete Herr v. Bülow die von seinem Standpunkt ja selbstverständliche Ansicht, dass Deutschland sich zur rechten Zeit eine Flotten- und Kohlenstation in China zugelegt habe, in die pompösen Worte, unseres Lebens schwer Geheimnis liege zwischen Übereilung und Versäumnis.

 

Entweder ist wahr, was Herr v. Bülow behauptete, entweder hat die deutsche Diplomatie Kiautschou von China leicht erworben, in ungetrübtem Einverständnis mit allen sonstigen Mächten, die in Ostasien interessiert sind, und dann fällt ein sehr eigentümliches Licht auf die Kieler Reden und die Entsendung des Prinzen Heinrich nach China. Oder aber diese Entsendung war notwendig und die Kieler Reden hatten recht, wenn sie mit dunklen Worten von einem ungeheuren Wagnis sprachen, und dann sind die niedlichen Trivialitäten, mit denen Herr v. Bülow gestern den Reichstag ergötzte, keinen Schuss Pulver wert. Sieht man davon ab, so genügt die Kniebeuge, die Herr v. Bülow vor Väterchen machte, als durchschlagender Beweis dafür, dass der neue Staatssekretär kein bahnbrechender Genius auf dem Gebiete der auswärtigen Politik ist. Er sagte: „Wir befinden uns im Einklang mit Russland, dessen Interessen in Europa nirgends die Unserigen durchkreuzen, in Ostasien vielfach mit denselben parallel laufen, und dessen natürliche Machtentwicklung wir als aufrichtige Freunde mit neidloser Sympathie begleiten." Ist das ernst gemeint, so kann diese Auffassung der deutschen Interessen einen wirklichen Politiker in der Seele jammern; ist's aber nur ein Hokuspokus, um den Kiautschou erkauft werden muss, dann ist die Ware etwas sehr teuer bezahlt worden. Wir gestehen gern, dass uns die deutschen Diplomaten, die nicht anders als im Tone eines Vasallen von Väterchen zu sprechen wagen, nur mäßig imponieren. Freilich können sie deshalb sehr wohl „zweite Bismarcks" sein, denn der Säkularmensch fürchtete bekanntlich auch den Zaren und sonst noch manches auf der Welt.

 

Von sozialdemokratischer Seite sprach Bebel. Er bekämpfte das chinesische Abenteuer, wobei er die Gesichtspunkte entwickelte, die von der Parteipresse in den letzten Wochen hervorgehoben worden sind. Verwirft die bürgerliche Opposition nur die unprofitable Kolonialpolitik, so muss die proletarische Opposition jede Kolonialpolitik verwerfen. Wollte sie in diesem einen Punkte mit dem Kapitalismus kompromittieren, so könnte sie's auch in jedem anderen, und sie wäre damit auf eine schiefe Ebene geraten, auf der es kein Aufhalten gäbe, bis in den Sumpf der bürgerlichen Rechnungsträgerei. Selbst wenn man von aller prinzipiellen Politik absieht, so wollen die besitzenden Klassen ihr chinesisches Geschäft auf eigene Rechnung machen, und so mögen sie es auch auf eigene Gefahr tun. Graf Posadowsky plaudert lange nicht so amüsant wie Herr v. Bülow, aber er hat dafür den Vorzug größerer Offenheit, und die Arbeiter wissen sehr genau, dass der Beutezug nach China Hand in Hand geht mit einem Attentat auf ihr Koalitionsrecht. Herr v. Bülow meinte, dass „wir" vorgehen wollten „nicht als Konquistadoren, aber auch nicht als Kalkulatoren, sondern als tüchtige und kluge Kaufleute, die, wie weiland die Makkabäer, die Waffe in der einen Hand haben, in der anderen aber die Kelle und den Spaten". Dies erhabene Bild trifft leider gar nicht zu. „Wir" gehen nämlich vor wie die richtigen Wucherer, die im Begriff, neue Profite einzusacken, zuerst unrühmliche Sorge dafür tragen, dass den arbeitenden Klassen die gesetzliche Möglichkeit entzogen wird, mit der günstigeren Lage des Marktes ihre Lebenshaltung zu erhöhen. Für diese großartige Politik wird Herr v. Bülow in der Bibel vergebens nach Vorbildern suchen; sie ist echt neureichsdeutsch, aber allerdings auch ganz im Stile eines „zweiten Bismarck". Denn die Methode, jeden kapitalistischen Beutezug mit einer Knebelung der Arbeiterklasse einzuleiten, hat der wirkliche Bismarck ja auch erfunden.

 

Sicherlich darf man die Bedeutung der chinesischen Politik nicht unterschätzen. Wir wissen wohl, dass es auch aus diesem Rausche ein Erwachen geben wird, und ein umso kläglicheres Erwachen, je dichter der Rausch ist. Aber das kann noch eine gute Weile dauern, und bis dahin haben manche Leute eine freie Bahn, von denen wir wünschten, dass sie keine freie Bahn hätten. Das bisschen Groll und Zorn, das endlich in den dürren Philisterseelen aufgekeimt war, ist wie weggeschwemmt; in rosenrotem Scheine liegt die nächste Zukunft vor den verzückten Augen aller Patrioten da. Umso notwendiger ist es, dass die Arbeiterklasse den Kopf oben behält und sich keinen Augenblick von den kapitalistischen Gaukel- und Schlaraffenbildern betören lässt. Der Weg, den sie zu durchlaufen hat, mag länger sein, als es wünschenswert wäre, aber durch Abstecher in diesen oder jenen Sumpf wird er auf keinen Fall kürzer.

 

Versuchungen solcher Art sind manches Mal schon an die deutsche Sozialdemokratie herangetreten, aber immer von ihr abgelehnt worden, und immer ist diese Ablehnung binnen kurzer Frist von den Ereignissen als richtig bestätigt worden. Und man muss gestehen, dass derlei Versuchungen auch immer weniger verlockend werden. Was müsste um des bisschen Kiautschou willen, von dem doch auch noch lange nicht feststeht, ob dies Paris wirklich eine Messe wert ist, alles in den Kauf genommen werden: Ägirs Dreizack mit dem Evangeliumkurse und der gepanzerten Faust, das devote Nicken vor Väterchen, der Erlass des Grafen Posadowsky mit allen Nücken und Tücken des Königs Stumm! Nur ein gutmütiger Phantast, wie Pfarrer Naumann, kann sich einbilden, dass die deutschen Arbeiter sich je mit solchen Dingen befassen möchten. Das würden in gleicher Lage nicht einmal die deutschen Bürger tun, trotz aller ihrer sonstigen Zaghaftigkeit, geschweige dass sich die deutschen Arbeiter auf einen Handel einlassen könnten, der für sie so schimpflich wäre wie ruinös.

 

Nach den bisherigen Erfahrungen zu urteilen, werden die gestrigen Verhandlungen des Reichstags jene „Schützenfeststimmung" entfesseln, von der Herr Bamberger einmal sprach, zur Zeit, als es sich nur erst um eine unprofitable Kolonialpolitik handelte. Jetzt, wo Profite winken, nennt er's vielleicht anders. Und richtiger spräche man auch wohl von Saturnalien der Bourgeoisie. Da die kapitalistische Produktionsweise diese Klasse wieder ein paar freie Sprünge machen lässt, so schlenkert sie mit Armen und Beinen wie außer Rand und Band. Wer da weiß, was morgen sein wird, kann ihr diesen Taumel bei aller sonstigen Feindschaft gern gönnen.

Sur le site Sozialistische Klassiker : https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/mehring/mehring-militarismus-imperialismus-krieg/mehring-imperialismus

Kolonialismus, Weltpolitik, Imperialismus

Kiautschou (Der Pachtvertrag) (12. Januar 1898)

China im Reichstag (9. Februar 1898)

Weltkrach und Weltmarkt (Broschüre, April 1900)

Die Unruhen in China (20. Juni 1900)

Die reifende Ernte (Die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking. Des Kaisers Chinarede) (4. Juli 1900)

Königliches (Die Ermordung des Königs von Italien. Die Hunnenrede des Kaisers) (1. August 1900)

Defizit und Weltpolitik (17. Januar 1903)

Die Lage Deutschlands (6. April 1904)

Auswärtige Politik und Reichstag (13. April 1904)

Kolonialskandale (1. August 1906)

Prätorianergesinnung (8. Mai 1907)

Der Fall Peters (10. Juli 1907)

Freie Hand (Die Arbeiter und die auswärtige Politik) (25. November 1911)

 

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