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16.07.1902. Franz Mehring répond à la conférence de Bernstein "les souffrances du peuple arménien" le 26 juin à Berlin et s'appuie sur l'analyse de Rosa Luxemburg dans ses articles de 1896.

Résumé par Mehring de la position développée par Rosa Luxemburg en 1896

 

Gehen wir zu dem zweiten Hauptpunkt Bernsteins über, zu den „völlig unrichtigen Ansichten über das politische Wesen der Türkei und über dessen Rückwirkung auf die der türkischen Herrschaft unterworfenen Völker"! Die richtigen Ansichten über diese Punkte, wie sie vor sechs Jahren Bernstein, Frau Luxemburg und andere gegen Liebknecht vertraten, lassen sich etwa zusammenfassen wie folgt. Bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war die Türkei ein naturalwirtschaftliches Land, wo jede Nationalität, jede Provinz, jede Gemeinde ihr eigenes Leben lebte, das angewohnte Elend geduldig trug und die wahre Grundlage für eine orientalische Despotie bildete. Diese Verhältnisse, so drückend sie waren, zeichneten sich durch eine große Stabilität aus und konnten lange bestehen, ohne Revolten der unterjochten Völker hervorzurufen. Das änderte sich aber, als sich die Türkei, im Zusammenstoß mit großen Militärmächten, namentlich mit Russland, zu Reformen gezwungen sah, als sie die feudalistische Verwaltung abschaffte und an ihre Stelle eine zentralisierte Bürokratie, ein stehendes Heer und ein neues Finanzsystem einführte. Diese Reformen waren, wie immer, mit enormen Kosten verbunden und liefen auf eine kolossale Erhöhung der öffentlichen Lasten hinaus. Aber der Türkei war unmöglich, zur kapitalistischen Produktionsweise vorzudringen; es gab und gibt weder Ansätze dazu, noch eine Gesellschaftsklasse, die als ihre Trägerin auftreten könnte. Das Steuer- und Verwaltungssystem der Türkei besteht aus einer seltsamen Mischung moderner und mittelalterlicher Prinzipien. Während in den kapitalistisch organisierten Staaten die Zentralregierung das Volk rupft und daraus ihr Beamtentum unterhält, rupft in der Türkei umgekehrt das Beamtentum auf eigene Faust das Volk und unterhält daraus die Zentralregierung.

L'article de Franz Mehring

Franz Mehring: Eine Wunderkur

16. Juli 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 481-486. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 493-499]

 

Am 26. vorigen Monats hat Genosse Bernstein in einer Berliner Volksversammlung über die armenischen Gräuel gesprochen und nunmehr diesen Vortrag unter dem Titel: Die Leiden des armenischen Volkes und die Pflichten Europas (John Edelheim Verlag, Berlin 1902) auch im Drucke erscheinen lassen. Die kleine Veröffentlichung scheint uns bemerkenswert genug, einige kritische Bemerkungen daran zu knüpfen.

 

Genosse Bernstein nennt die stoische Gleichgültigkeit, die man in Deutschland vielfach selbst in demokratischen Kreisen der Erdrosselung des armenischen Volkes gegenüber an den Tag lege, im höchsten Grade beschämend. Sie sei aber eine erklärliche Folge erstens des Umstandes, dass wir in Deutschland in Fragen der auswärtigen Politik überhaupt noch keine freiheitlichen Überlieferungen hätten und zweitens der großen Verbreitung völlig unrichtiger Ansichten über das politische Wesen der Türkei und über dessen Rückwirkung auf die der türkischen Herrschaft unterworfenen Völker. Der Bekämpfung dieser Ansichten widmet Bernstein einen verhältnismäßig großen Teil seines Vortrags. Er meint, die unerhört grausamen Massenabschlachtungen in Armenien sollten an sich genügen, dem Volke, an dem sie verübt würden, die hilfsbereite Sympathie aller rechtlich Denkenden zu sichern. Sie erschienen aber erst in ihrem wahren Lichte, wenn man wisse, in welchem Zusammenhang sie mit dem ganzen politischen Regierungssystem in der Türkei ständen und wie dieses selbst beschaffen sei.

 

Alledem können wir vollkommen beistimmen, und wir heben gern hervor, dass es zu Bernsteins Verdiensten um die Partei gehört, schon vor Jahren den „völlig unrichtigen Ansichten über das politische Wesen der Türkei" entgegengetreten zu sein. Dies Verdienst war umso größer, als die von ihm bekämpften Ansichten sich auf Marx und Engels beriefen und, wenn man den Wechsel der Zeiten nicht gebührend veranschlagte, auch in gewissem Sinne berufen konnten. Der „gute Freund", auf den sich Bernstein auf Seite 29 seines Vortrags bezieht, ist unzweifelhaft Liebknecht gewesen. Bernstein sagt, ein Brief, den er von diesem Freunde erhalten habe, sei „im Kern fast darauf hinausgelaufen, dass es erstens überhaupt keine Armenier in der Türkei gäbe, zweitens dass die Armenier, die es dort gäbe, sehr glücklich und dass drittens diejenigen, die sich gegen die türkischen Beamten auflehnten, alles russische Agenten seien". Ohne den Verdiensten Liebknechts sonst irgendwie zu nahe zu treten, wird man anerkennen müssen, dass dieser Scherz Bernsteins nicht unberechtigt ist. Er hat Liebknechts Stellung zur orientalischen Frage schon bei dessen Lebzeiten, im Bunde mit Kautsky und Frau Luxemburg, energisch bekämpft1; man kann ihm keinen Treppenwitz vorwerfen, wenn er jetzt gegen die Misshandlung der Armenier durch die Türken protestiert.

 

Bernstein hat ferner auch recht, wenn er sagt, dass es sich in Armenien noch weniger als irgendwo sonst in der Türkei um spezifisch sozialistische Reformen handle, ja dass man noch nicht einmal von bürgerlich-demokratischen Reformen reden könne. Die Forderungen der Armenier seien so gemäßigt, dass zum Beispiel die von ihnen verlangte Gemeindeordnung selbst vom konservativsten ostelbischen Agrarier unterschrieben werden könne. Es ist zweifellos, dass der Schutz der Armenier vor den türkischen Gräueln das Herannahen des „Zukunftsstaats" auch nicht um eine Sekunde zu beschleunigen vermag und in dieser Beziehung nicht das geringste Hindernis für die europäischen Regierungen und die bürgerlichen Parteien in den europäischen Staaten besteht, ihr Ohr den Hilfeschreien der Armenier zu öffnen. Allein wenn Bernstein aus diesen, wie gesagt, unanfechtbaren Tatsachen die Schlussfolgerung gezogen hat, dass er in seinem Vortrag seiner sozialdemokratischen Anschauung nur insoweit Ausdruck geben dürfe, als ihm zur Begründung der Gesichtspunkte, unter denen er die armenische Frage betrachte, unumgänglich notwendig erscheine, und zwar deshalb, weil wir der Kundgebung zugunsten der Armenier einen über die Grenzen der Partei hinausgehenden Nachhall zu geben wünschen, so vermögen wir dem nicht beizustimmen.

 

Um nicht zu weitläufig zu werden, beschränken wir unsere Einwände auf die beiden Hauptpunkte, die Bernstein selbst als solche hervorhebt. Seine Ansicht, dass die Deutschen in der auswärtigen Politik noch keine freiheitlichen Traditionen hätten, begründet er im einzelnen damit, Deutschland sei von jeher ein eroberndes und als Unterdrücker auftretendes Land gewesen, ein Land der Eroberungen, das von allen Nachbarnationen gehasst und gefürchtet worden sei. Diese Tatsache, dass nämlich Deutschland ein eroberndes Land gewesen sei, habe sich zur Zeit der Reformation und später, namentlich aber im Jahre 1848, empfindlich bemerklich gemacht, indem die Deutschen aus Interesse an ihrem fremdländischen Besitztum nicht wahrhaft freiheitlich, nicht als echt demokratisches Volk aufgetreten seien. Sie hätten bisher keinem Volke die Freiheit gebracht, und so möchten sie endlich sich an den Armeniern die Sporen verdienen.

 

Dieser Auffassung liegt ein ganz richtiger Gedanke zugrunde, den wir hier mit den Worten der „Neuen Rheinischen Zeitung" wiedergeben wollen. „Deutschland hat,… um nur die letzten 70 Jahre ins Auge zu fassen, seine Landsknechte für englisches Gold den Briten gegen die für ihre Unabhängigkeit kämpfenden Nordamerikaner überliefert; als die erste französische Revolution losbrach, waren es abermals die Deutschen, die sich wie eine tolle Meute gegen die Franzosen hetzen ließen, die mit einem brutalen Manifeste des Herzogs von Braunschweig ganz Paris bis auf den letzten Stein zu schleifen drohten, die sich mit den ausgewanderten Adligen gegen die neue Ordnung in Frankreich verschworen und sich dafür von England unter dem Titel von Subsidien bezahlen ließen. Als die Holländer während der letzten zwei Jahrhunderte einen einzigen vernünftigen Gedanken fassten, der tollen Wirtschaft des Hauses Oranien ein Ende und ihr Land zur Republik zu machen, waren es wiederum Deutsche, die als die Scharfrichter der Freiheit auftraten. Die Schweiz weiß ebenfalls ein Lied zu singen von deutscher Nachbarschaft, und Ungarn wird sich nur langsam von dem Schaden erholen, den ihm Östreich, der deutsche Kaiserhof, zugefügt. Ja, bis nach Griechenland hin entsandte man deutsche Söldnerscharen, die dem lieben Otto sein Thrönchen stützen mussten, und bis nach Portugal deutsche Polizisten. Und die Kongresse nach 1815, Ostreichs Züge nach Neapel, Turin, der Romagna, Ypsilantis Haft, Frankreichs Unterdrückungskrieg gegen Spanien von Deutschland erzwungen, Dom Miguel, Don Carlos von Deutschland unterstützt – die Reaktion in England mit hannoverschen Truppen bewaffnet, Belgien durch deutschen Einfluss zerstückelt und thermidorisiert, im tiefsten Innern von Russland Deutsche die Hauptstütze des einen und der kleinen Autokraten – ganz Europa mit Coburgern überschwemmt!

 

Mit Hülfe deutscher Soldateska Polen beraubt, zerstückelt, Krakau gemeuchelt. Mit Hülfe deutschen Geldes und Blutes die Lombardei und Venedig geknechtet und ausgesogen, mittel- oder unmittelbar in ganz Italien jede Freiheitsbewegung durch Bajonett, Galgen, Kerker und Galeeren erstickt. Das Sündenregister ist viel länger; schlagen wir es zu."2 Marx und Engels fügen nur noch hinzu, dass die Schuld dieser Niederträchtigkeiten nicht allein den deutschen Regierungen, sondern zum großen Teile dem deutschen Volke selbst zur Last falle; ohne seinen Sklavensinn, seine Verblendungen, seine Anstelligkeit als Landsknechte und als „gemütliche" Büttel und Werkzeuge der Herren „von Gottes Gnaden" wäre der deutsche Name weniger gehasst, verflucht, verachtet im Auslande.

 

Bernstein besitzt viel zu gediegene historische Kenntnisse, um die Richtigkeit dieser Darstellung zu bestreiten. Er will die Sache nur, um den deutschen Philister und die deutsche Diplomatie gegen die armenischen Gräuel auf die Beine zu bringen, möglichst gelinde darstellen, und so spricht er von den Deutschen als „Eroberern", die sich bei allen anderen Nationen gehasst und gefürchtet gemacht hätten, was die deutsche Geschichte, insbesondere von der Reformation bis zum Jahre 1848, in einem Lichte darstellt, worin sie selbst bürgerliche Historiker nicht gerade zu erblicken pflegen. Aber gewiss: Wollte Bernstein so frisch und ungeniert, wie Marx und Engels, von der sozialdemokratischen Leber reden, so würde er jeden Philister und jeden Diplomaten vor den Kopf stoßen; will er für die misshandelten Armenier demonstrieren über die Grenzen der Partei hinaus, so muss er konsequenter- und logischerweise die Grenze zwischen Bourgeoisie und Proletariat verwischen.

 

Gehen wir zu dem zweiten Hauptpunkt Bernsteins über, zu den „völlig unrichtigen Ansichten über das politische Wesen der Türkei und über dessen Rückwirkung auf die der türkischen Herrschaft unterworfenen Völker"! Die richtigen Ansichten über diese Punkte, wie sie vor sechs Jahren Bernstein, Frau Luxemburg und andere gegen Liebknecht vertraten, lassen sich etwa zusammenfassen wie folgt. Bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war die Türkei ein naturalwirtschaftliches Land, wo jede Nationalität, jede Provinz, jede Gemeinde ihr eigenes Leben lebte, das angewohnte Elend geduldig trug und die wahre Grundlage für eine orientalische Despotie bildete. Diese Verhältnisse, so drückend sie waren, zeichneten sich durch eine große Stabilität aus und konnten lange bestehen, ohne Revolten der unterjochten Völker hervorzurufen. Das änderte sich aber, als sich die Türkei, im Zusammenstoß mit großen Militärmächten, namentlich mit Russland, zu Reformen gezwungen sah, als sie die feudalistische Verwaltung abschaffte und an ihre Stelle eine zentralisierte Bürokratie, ein stehendes Heer und ein neues Finanzsystem einführte. Diese Reformen waren, wie immer, mit enormen Kosten verbunden und liefen auf eine kolossale Erhöhung der öffentlichen Lasten hinaus. Aber der Türkei war unmöglich, zur kapitalistischen Produktionsweise vorzudringen; es gab und gibt weder Ansätze dazu, noch eine Gesellschaftsklasse, die als ihre Trägerin auftreten könnte. Das Steuer- und Verwaltungssystem der Türkei besteht aus einer seltsamen Mischung moderner und mittelalterlicher Prinzipien. Während in den kapitalistisch organisierten Staaten die Zentralregierung das Volk rupft und daraus ihr Beamtentum unterhält, rupft in der Türkei umgekehrt das Beamtentum auf eigene Faust das Volk und unterhält daraus die Zentralregierung.

 

Es ist das besondere Verhängnis der Türkei, dass die Grundlage der bestehenden Despotie unaufhaltsam untergraben, die Grundlage des modernen Staates aber nicht zugleich geschaffen wird. Sie kann sich als Ganzes nicht regenerieren. Je mehr der Druck und das Elend wachsen, womit sie auf den unterworfenen Völkern lastet, um so mehr suchen diese Nationalitäten ihrer Gewalt zu entkommen und in einer selbständigen Existenz den Weg zu einer höheren sozialen Entwicklung zu gewinnen. In erster Reihe die christlichen Völker, bei denen der materielle Interessengegensatz vielfach mit der nationalen Scheidegrenze zusammenfällt. Der Christ ist in seinen Rechten zurückgesetzt, sein Eid gilt nichts gegen einen Mohammedaner, er darf keine Waffe tragen, er kann in der Regel kein öffentliches Amt bekleiden. Die Ablösung der christlichen Länder von der Türkei ist ihrem historischen Wesen nach eine fortschrittliche Erscheinung, und deshalb muss die Sozialdemokratie mit ihr sympathisieren. Solange ein Land unter türkischer Herrschaft bleibt, kann von einer modernen kapitalistischen Entwicklung darin keine Rede sein. Von der Türkei losgetrennt, bekommt es eine europäische Staatsform und bürgerliche Institutionen und wird allmählich in den allgemeinen Strom der kapitalistischen Entwicklung hineingezogen.

 

Dies ist, freilich nur in den allgemeinsten Umrissen, die Auffassung des türkischen Problems, die Bernstein noch vor sechs Jahren mit anderen gegen Liebknecht vertreten hat. Wie stellt er sich aber in seinem Vortrag zu der gleichen Frage? Er wirft der Türkei vor, eine Militärherrschaft und eine Theokratie zu sein, handelt seitenlang über die Kultur hemmenden Wirkungen des Mohammedanismus und sagt dann, „einige Sultane" hätten eine gewisse Gleichberechtigung der Religionen in der Türkei herzustellen gesucht, aber: „Sie stießen sich teils am Fanatismus des eigenen Volkes und teils an dem Widerwillen ihrer herrschenden Stände: der organisierten Priesterschaft und den herrschenden Schichten des militärischen und zivilen Beamtentums. An diesen Widerständen brach sich der gute Wille aller besseren türkischen Staatsmänner. Wenn sie Reformen durchzuführen versuchten, war es gewöhnlich die organisierte Priesterschaft, die sich ihnen entgegenstellte und den Fanatismus der ungebildeten Massen entflammte, und auf der anderen Seite sorgten die Masse der Paschas und ihre Subjekte dafür, dass die Reformen einfach nicht durchgeführt oder in ihr Gegenteil verkehrt wurden." Man kann nicht sagen, dass diese Auffassung falsch ist, aber sie reduziert ein verwickeltes historisches Problem auf einige verwaschene Redewendungen, wie sie dem deutschen Philister geläufig und „dem guten Willen besserer Staatsmänner" etwa noch erträglich sind.

 

Soviel über die beiden Hauptpunkte, aus denen Genosse Bernstein die stoische Gleichgültigkeit ableitet, die das deutsche Volk bis in seine demokratischen Kreise hinein gegenüber den armenischen Gräueln zeigt. Nun haben aber die sozialdemokratischen Kreise jedenfalls eine solche Gleichgültigkeit nicht gezeigt; wie Bernstein selbst hervorhebt, hat vor zwei Jahren der Internationale Sozialistenkongress in Paris sich höchst energisch gegen die türkischen Misshandlungen der Armenier ausgesprochen, und ebenso hat vor kurzem das Internationale Sozialistische Büro in Brüssel protestiert, ja im deutschen Reichstag hat der Genosse Gradnauer den Reichskanzler direkt aufgefordert, auf Grund des Berliner Vertrags von 18783 vorzugehen und der Wortbrüchigkeit der Türkei gegenüber nicht länger untätig zu bleiben. Leider sei Gradnauer aber, so meint Bernstein, unter einem gewissen Gesichtspunkt nicht vorsichtig genug gewesen, er habe auch andere Angelegenheiten der auswärtigen Politik berührt, und so habe es der Reichskanzler bequem gehabt mit der Antwort, Deutschland könne nicht den Hans Dampf in allen Gassen spielen. Dem stimmt Bernstein zu, aber er macht den Grafen Bülow darauf aufmerksam, dass im Falle der Armenier ein Vertrag vorliege, der gehalten werden müsse; so viel wisse doch auch Graf Bülow, dass die Armenier sich nicht selbst helfen könnten, dass für sie die Hilfe von außen kommen müsse.

 

Wir vermögen nun wirklich nicht die Sicherheit zu teilen, womit Genosse Bernstein auf den Grafen Bülow hofft. Zunächst aus dem allgemeinen Grunde nicht, weil es schlechterdings kein Gebiet der internationalen Politik gibt, auf dem sich die europäische Diplomatie so gänzlich unfähig gezeigt hat, wie das Gebiet der orientalischen Frage. Dann aus dem persönlichen Grunde nicht, weil wir den Grafen Bülow für einen zu vorsichtigen Staatsmann halten, als dass er den Sultan wegen der armenischen Gräuel bei der Nase fasst, auf die Gefahr hin, vom Sultan wegen der chinesischen Gräuel bei der Nase gefasst zu werden. Wir wissen, dass Graf Bülow in diesem Punkte sehr kitzlig ist; hat doch heute erst ein deutsches Gericht auf den Antrag seiner Regierung hin einen Redakteur des „Vorwärts" zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, weil er wahrheitsgemäß, aber unwillig über die Erschießung einiger Dutzend wehrloser Chinesen berichtet hatte. Auch die Polenpolitik des Grafen Bülow, die neulich in der Verurteilung des Genossen Morawski und der Genossin Golde so wundersame Kulturblüten gezeitigt hat, berechtigt nicht gerade zu der Annahme, dass der deutsche Reichskanzler, auch bei der „vorsichtigsten" Behandlung, etwas gegen die armenischen Gräuel tun werde.

 

Diese Gräuel selbst sind in unseren Augen nicht minder scheußlich als in den Augen des Genossen Bernstein. Aber sie sind nicht die einzigen Gräuel in der besten der Welten, und wer mit allen kulturwidrigen Gräueln aufräumen will, der darf nicht die wissenschaftliche Heilmethode aufgeben um einer Wunderkur willen, die ein einzelnes Symptom in der wunderlichsten Weise kurieren will. Wir beklagen die armen Armenier; aber um eine wirkungslose Kundgebung für sie zu machen, geben wir nicht einen Zoll von dem Boden auf, den sich das moderne Proletariat, daher keuchend unter der kapitalistischen Misere, in jahrzehntelanger Arbeit zu erobern gewusst hat.

 

1 Gemeint ist die Auseinandersetzung in den führenden Kreisen der Sozialdemokratie anlässlich des griechisch-türkischen Krieges im Frühjahr 1897 (Aufstand in Kreta gegen die osmanische Unterdrückung). Liebknecht war gegen die Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegung der Balkanvölker, weil sie seiner Meinung nach keinen ausreichenden Damm gegen das zaristische Russland schaffen könnten. Kautsky, Bernstein, Luxemburg und andere traten für die Unterstützung aller christlichen Völker des Balkans ein, die gegen die Türkei kämpften, weil sie den Sultan als Vasallen des Zaren betrachteten. Aber auch der Standpunkt Kautskys und Bernsteins war durch die mit dem Übergang zum Imperialismus überholte Auffassung belastet, dass Russland nach wie vor das Hauptbollwerk der europäischen Reaktion sei.

In der Reichstagsdebatte von 1897 schwieg die sozialdemokratische Fraktion.

3 Gemeint ist das am 13. Juli 1878 unterzeichnete Traktat des Berliner Kongresses der sechs Großmächte und der Türkei zur Regelung der russisch-türkischen Streitigkeiten. Es revidierte den am 3. März geschlossenen Friedensvertrag von San Stefano. Hauptergebnisse waren: Unabhängigkeitserklärung Rumäniens, Serbiens und Montenegros; Schaffung Ostrumeliens; Übergabe Bosniens und der Herzegowina an Österreich.

Tag(s) : #Réformisme. Rosa Luxemburg
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