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Franz Mehring - Ecole du parti

Franz Mehring - Ecole du parti

 

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 513-516. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 205-208]

 

Der Pachtvertrag, der zwischen Deutschland und China über die Bucht von Kiautschou abgeschlossen worden ist, hat in der sozialdemokratischen Presse zu kleinen Reibungen geführt, die von bürgerlichen Organen als wirkliche Meinungsverschiedenheiten aufgefasst worden sind und in solchem Sinne ausgebeutet werden. Wir fürchten, dass es diesen bürgerlichen Blättern ergehen wird wie den Vögeln, die morgens zu früh singen und abends von der Katze gefressen werden. Bei jenen kleinen Reibungen, von denen dahingestellt bleiben mag, ob sie nicht besser unterblieben wären, handelt es sich nicht um Unterschiede der Auffassung, sondern höchstens um Unterschiede des Tones und des Temperaments, die nichts beweisen und am allerwenigsten etwas im Sinne bürgerlicher Schadenfreude.

Wie jedes Ding in der Welt, so hat auch die Kolonialpolitik ihre zwei Seiten. Sie gehört zu den mächtigsten Faktoren der kapitalistischen Entwicklung, an deren Licht- wie an deren Schattenseiten sie ihren reichen Anteil hat. Die Frage nach ihrem Wert oder Unwert lässt sich nicht mit einem Ja oder Nein beantworten und ist in dieser apodiktischen Form überhaupt keine Frage; das historische Wesen der Kolonialpolitik lässt sich nur auf dem Wege historischer Untersuchung erkennen. Solche Untersuchungen gehören aber nicht zu den Aufgaben einer politischen Partei, die es mit der praktischen Politik zu tun hat. Und soweit die deutsche Kolonialpolitik seit einem Dutzend Jahre praktisch betrieben worden ist, hat die deutsche Sozialdemokratie stets zu ihren rücksichtslosen Gegnern gehört. Es liegt weder ein Anlass vor, diese Haltung zu ändern, noch eine Tatsache, die auf eine solche Änderung schließen ließe.

Schon die Art, wie der Pachtvertrag zwischen Deutschland und China eingeleitet und abgeschlossen worden ist, müsste jede, wir sagen gar nicht einmal demokratische, sondern nur liberal-konstitutionelle Partei hindern, von einem großen Erfolg der deutschen Politik zu reden. Für das deutsche Volk und seine verfassungsmäßigen Vertretungen ist der Vertrag einfach ein Schritt aus dem Dunklen heraus in das Dunkle hinein; nicht einmal darüber, was die Bucht von Kiautschou als Hafen- und Handelsplatz bedeutet, ist irgend etwas Zuverlässiges bekannt, die Meinungen der angeblichen oder wirklichen Fachmänner gehen in diesem Punkte sehr weit auseinander. Nur das eine ist klar, dass der Vertrag neue Forderungen an Gut und Blut der Nation nach sich ziehen wird, und man sollte denken, dass jeder deutsche Patriot oder doch mindestens jeder liberale Politiker zunächst ein Gefühl tiefer Beschämung darüber empfinden müsste, dass er wieder einmal mittaten soll, wo er nicht mit raten darf. Indessen ist man es an den liberalen Kapitalisten gewöhnt, dass sie ihr politisches Selbstbewusstsein mit Vergnügen preisgeben, wenn sie irgendwo den Schimmer neuer Profite auftauchen sehen; nur soll sich niemand einbilden, dass sich die Sozialdemokratie je auf einem so fahlen Pfade ertappen lassen könnte.

Nehmen wir einen Augenblick an, Kiautschou wäre das Dorado, das die kapitalistische Presse darin sehen will, so hätte die Arbeiterklasse dennoch nicht den geringsten Anlass, sich für diesen Erwerb zu begeistern. Im günstigsten Falle würde dann das deutsche Proletariat einige augenblickliche und schnell vorübergehende Vorteile eintauschen gegen eine umso schwerer drückende Wucht des Kapitals, das auf seinem Nacken lastet. Darüber sind sich alle klassenbewussten Arbeiter klar, und sie werden sich diese Klarheit auch nicht durch die süßen Sirenengesänge trüben lassen, welche die „Hilfe" des Pastors Naumann über die Machterweiterung des teuren Vaterlandes anstimmt. Es handelt sich nicht sowohl um ein größeres Deutschland, als um ein größeres Kapital, und je mehr das Kapital sich akkumuliert und konzentriert, umso tiefer drückt es die Arbeiterklasse nieder. Man kann freilich diesen Gedanken noch weiterspinnen und sagen: Je tiefer die Arbeiterklasse durch das Kapital niedergedrückt wird, umso stärker wird auch ihr Gegendruck, durch den sie schließlich die Macht des Kapitals zerbricht. Jedoch ist diese historische Schlussfolgerung keine praktische Politik. Eine kämpfende Klasse sucht die Hindernisse wegzuräumen, die auf ihrem Wege liegen, aber sie kann sich nicht selbst Hindernisse in den Weg wälzen, um dadurch Kraft und Mut zu stählen. Das Proletariat braucht sich durch eine erfolgreiche Kolonialpolitik nicht entmutigen zu lassen, aber es kann nicht mit patriotischem Hurra hoch! für sie ins Zeug gehen, wenn es sich anders nicht dem bekannten Tadel aussetzen will: Nur die allergrößten Kälber wählen ihren Metzger selber.

Das alles gilt für den günstigsten Fall. Ob ein solcher Fall in dem Erwerbe von Kiautschou vorliegt, ist aber äußerst fraglich. Die deutsche Kolonialpolitik unterscheidet sich von der englischen, französischen, holländischen Kolonialpolitik dadurch, dass sie im absteigenden Aste der kapitalistischen Entwicklung ihre Rolle zu spielen begonnen hat. Sie begann erst zehn Jahre, nachdem sich Deutschland in dem großen Krache als weltmarktfähiges Industrieland erprobt hatte, und zwar begann sie als ein politisches Verlegenheitsmanöver, als ein Schachzug, welcher der Regierung einen günstigen Ausfall der Wahl sichern sollte. Seitdem ist nahezu ein halbes Menschenalter ins Land gegangen, und kein noch so begeisterter Patriot kann bestreiten, dass die Kolonialpolitik den deutschen Steuerzahlern ungleich mehr gekostet als eingebracht hat, ungerechnet die nicht geringe Zahl moralischer und politischer Blamagen, die ihr der Ruf der deutschen Nation verdankt. Und so fragwürdig die Reize der Bucht von Kiautschou selbst nur vom kapitalistischen Standpunkt aus sind, so sicher ist jetzt schon die lange Rechnung, die den deutschen Steuerzahlern für die glorreiche Expedition präsentiert werden wird. Jener preußische Hofprediger, für den Steuerzahlen die reine Seligkeit war, mag aus den himmlischen Gefilden die deutsche Kriegsflagge mit hoher Begeisterung im Gelben Meere flattern sehen; eine große Volkspartei, die das Interesse der arbeitenden Massen vertritt, wird sich schwerlich zu einer so hehren Entsagung aufschwingen.

Deutschland ist ein großes Industrieland geworden, ohne jemals ein Kolonialland gewesen zu sein. Dass es den Vorsprung der großen Kolonialmächte einholen kann, ist ausgeschlossen. Zu dieser Einbildung schwingen sich selbst die ärgsten Fanatiker unter den deutschen Chauvinisten nicht auf. Will das Deutsche Reich dennoch an der Spitze der Zivilisation marschieren, so mag es seinen Ruhm da suchen, wo er wirklich zu finden ist: auf dem Gebiete der Sozialpolitik. Dabei wird es schließlich auch bessere Geschäfte machen, als es mit allem Flaggenhissen in fremden Weltteilen machen kann. Aber auf dem Gebiete der Sozialpolitik eine beschämend klägliche Rolle spielen und sich dafür durch Bramarbasmanieren in China oder Haiti erholen: Das ist ein so fragwürdiger Ruhm, wie die Reize von Kiautschou fragwürdig sind.

Jedoch hat die Sache eine Seite, die wohl einer nachdenklichen Erwägung wert ist. Wie die deutsche Kolonialpolitik von jeher weit mehr auf dem Gebiete der inneren als der äußeren Angelegenheiten gespielt hat, so fragt sich, ob der Vertrag mit China nicht berufen ist, auf die bevorstehenden Reichstagswahlen einen Druck auszuüben. Alles in allem sind die Wahlaussichten heute nicht mehr so günstig, wie sie vor einem halben Jahre zu sein schienen. Ein vollkommen sicherer Anker der Opposition ist die Arbeiterklasse, soweit sie zum politischen Selbstbewusstsein gelangt ist, aber sie ist es auch allein. Und so stark sie sein mag, so gebietet sie noch nicht über die Mehrheit der Wähler. Überblickt man die Reichstagswahlen, die seit zwanzig Jahren stattgefunden haben, so tritt aus all dem Hin- und Hergewürge als der entscheidende Gesichtspunkt immer wieder die Frage hervor, ob der deutsche Spießbürger endlich einmal auf die Beine zu stellen und auf den Beinen zu erhalten ist. Vor einem Jahre schien es, als ob es dem Zickzackkurse endlich doch gelungen sei, dies schwierige Kunststück fertig zu bringen, aber wenn seitdem schon mancherlei Anzeichen darauf hinwiesen, dass dieser Schein trüge, so muss die Aufnahme, die der Pachtvertrag mit China gefunden hat, soweit deutsche Spießbürger wohnen, die Hoffnung auf die Möglichkeit ihrer politischen Ermannung sehr herab stimmen. Hat die harmlose Spazierfahrt nach China schon besänftigend oder gar begeisternd auf die grollenden Gemüter gewirkt, so sieht es um die Erfolge der bürgerlichen Opposition bei den nächsten Reichstagswahlen nicht gut aus. Es ist kein glückliches Vorzeichen, dass die Befriedigung über die Besitzergreifung von Kiautschou in der bürgerlichen Welt viel größer ist, als sie vor den Reichstagswahlen von 1884 über die Flaggenhissungen in Angra Pequena, Kamerun und Togo war, mit denen Bismarck gleichwohl die Freisinnige Partei zu zertrümmern verstand.

Daraus folgt gewiss nicht, den patriotischen Wallungen der Spießbürger irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Mit solcher Nachgiebigkeit hat sich die Freisinnige Partei immer tiefer in die Tinte geritten. Es kommt vielmehr darauf an, das Blendwerk zu zerstören, damit es möglichst wenig Unheil anrichten kann. Auch aus diesem Grunde ist die rücksichtsloseste Opposition gegen Kiautschou geboten und gegen alles, was sonst damit zusammenhängt. Nach dem klaren und unzweideutigen Wortlaute der Reichsverfassung bedarf der Pachtvertrag mit China der Genehmigung des Reichstags. Ehe man nicht den Beweis vom Gegenteil hat, darf man nicht annehmen, dass sich die Regierung ihrer verfassungsmäßigen Verpflichtung entziehen wird. Zu riskieren hat sie dabei auch insofern nichts, als sie der Zustimmung des Reichstags bei seiner heutigen Zusammensetzung sicher sein darf. Aber die Debatte wird reichliche Gelegenheit bieten, die Seezeichen auszustecken, die vor Klippen und Untiefen warnen.

Noch sehen die Gegner den Wahlen mit großen Sorgen entgegen, und ihre Angst macht sie augenblicklich sehr vorsichtig. Es ist kaum darauf zu rechnen, dass sie vor den Wahlen noch besondere Dummheiten riskieren werden. Mit Kiautschou haben sie aber vom Standpunkt der Wahltaktik aus einen nicht unglücklichen Griff getan, und es empfiehlt sich, rechtzeitig dies Fangnetz zu zerreißen.

Tag(s) : #Colonialisme. Rosa Luxemburg, #Impérialisme. Rosa Luxemburg
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